Nachruf

Trauer um Jörn Thiede

Ehemaliger Direktor des Alfred-Wegener-Instituts und des GEOMAR im Alter von 80 Jahren verstorben.
[19. Juli 2021] 

Mit großer Bestürzung und Trauer haben wir vernommen, dass unser früherer Direktor, Kollege und Freund Prof. Dr. Jörn Thiede verstorben ist. Vor wenigen Monaten haben wir noch zu seinem 80. Geburtstag seinen beeindruckenden Lebensweg und seine Leistungen für die deutschen und internationalen Geowissenschaften, besonders auch die Meeres- und Polarforschung gefeiert – leider vorwiegend digital.

Wir möchten ihm mit dieser Würdigung umfassend gedenken und uns mit all den besonderen Momenten trösten, den vielen Ereignissen und Aktivitäten, die für immer an ihn erinnern. Seine wissenschaftlichen Arbeiten in den Marinen Geowissenschaften und der Paläontologie sind wegweisend und haben die Meeres- und Polarforschung erheblich beeinflusst. Sein visionärer Blick, auch weit jenseits dieser Disziplinen, hat uns geprägt. Der grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisgewinn und die Innovation der Forschung in internationaler Partnerschaft standen bei ihm immer an erster Stelle. Seine Forschungen und sein Beitrag zum Forschungsmanagement haben entscheidend dazu beigetragen, GEOMAR und AWI international als Leuchttürme der Ozean-, Küsten- und Polarforschung zu etablieren. Bis zuletzt hat er die große Aufgabe verfolgt, die Forschung rund um die Rolle der Ozeane und Polarregionen sowie ihrer enormen Lebensvielfalt und Relevanz für unser Leben voranzutreiben, in unzähligen Gremien im In- und Ausland. Dafür sind wir ihm zutiefst dankbar.

Vor 80 Jahren begann am 14. April 1941 sein Lebensweg in Berlin, in einer Zeit, die durch die katastrophalen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs geprägt waren. Schon während seiner Schulzeit in Kiel hat Jörn Thiede sich mit geologischen Themen beschäftigt und zusammen mit seinen Freunden Friedrich Seifert und Dietrich Horn unter Anleitung von Prof. Walter Wetzel den eiszeitlichen Formschatz der näheren Umgebung studiert. Das Studium der Erdwissenschaften in Kiel folgte und brachte ihn auch an die Universitäten von Wien und Buenos Aires. 1967 schloss er sein Studium mit einer Diplomarbeit über die Stratigraphie und Tektonik des Unter- und Mitteldevons im Rheinischen Schiefergebirge unter der Anleitung von Prof. Krömmelbein ab. Schon damals entwickelte sich seine internationale Perspektive für die Relevanz erdgeschichtlicher Forschung.

Nach dem Diplom wechselte er an die Universität Aarhus, wo er als Lektor für Exogene Geologie tätig war. Unter Eugen Seibold, der seit 1958 in Kiel lehrte, entwickelte sich die Meeresgeologie in Kiel zu einem neuen Zweig der Erdwissenschaften. Jörn Thiede wendete sich mit Begeisterung dieser Disziplin zu, um bei Eugen Seibold über Sedimente des östlichen Atlantiks vor der iberischen Halbinsel und vor Marokko zu promovieren. Er untersuchte Ablagerungen planktonischer Foraminiferen und deren quantitativer Verteilung, um Aussagen über die Geschichte sich ändernder Umweltparameter abzuleiten. Neue Erkenntnisse zum Einfluss von Temperatur und Salzgehalt auf die Verteilung von Foraminiferen veröffentlichte er noch vor seiner Promotion in 1971. Als Sedimentologe beteiligte sich Jörn Thiede an der Ausfahrt mit dem Bohrschiff Glomar Challenger in den Indischen Ozean (Leg 24), was sicherlich die Liebe zu Expeditionen und großen Forschungsinfrastrukturen begründete. Von 1973 bis 1975 arbeitete Jörn Thiede in Bergen, Norwegen, als Universitätslektor und Førstelektor, sowie als Sedimentologe auf dem Deep Sea Drilling Project Leg 39 im zentralen Atlantik.

Mit seinem Wechsel an die Oregon State University 1974 begann die lebenslange Zusammenarbeit mit Erwin Suess, den er später an das von ihm neu gegründete Forschungszentrum für Marine Geowissenschaften (GEOMAR) berief. Beide interessierten sich für die ozeanischen Auftriebsgebiete. In diese Zeit fallen auch seine Studien über die Veränderungen des Mittelmeers während der letzten Eiszeit.

Im Jahr 1977 wurde er auf den Lehrstuhl für Historische Geologie an der Universität Oslo berufen, Norwegen wurde seine zweite Heimat. Seine Arbeiten weiteten sich über alle Weltmeere aus. Weitere Deep Sea Drilling Ausfahrten schlossen sich mit Leg 61 und gleich anschließend als Co-Chief Scientist auf Leg 62 im Pazifikan an. Es entstanden die heute vielzitierten Arbeiten über die Dynamik des Windregimes während der jüngsten geologischen Vergangenheit. In Oslo vertiefte sich seine Zusammenarbeit mit dem Geophysiker und Meeresgeologen Olaf Eldholm und der Geophysikerin Annik Myhre. Seine Blickrichtung als Paläo-Ozeanograph auf die Sedimente des Meeresbodens als „das vollständigste Tagebuch der Erdgeschichte“, wie er es nannte, ermöglichte ein vertieftes Raum-Zeit-Verständnis für die Entwicklung der Weltmeere und der Erde. Jörn Thiede beteiligte sich wirksam an der Weiterentwicklung des Deep Sea Drilling Programs zum Ocean Drilling Program im internationalen Forschungsverbund und nahm an der Arktis-Expedition YMER teil, die sein Interesse am Nordmeer weckte.

Dem Ruf auf den Lehrstuhl für Paläontologie und Historische Geologie folgte Jörn Thiede 1982 zurück nach Kiel, vor allem um die Geschichte der nördlichen Breiten und des Arktischen Ozeans zu erforschen, die in zwei ODP Kampagnen mit dem Tiefbohrforschungsschiff JOIDES RESOLUTION gipfelten: ODP Leg 104 „The Norwegian Continental Margin“ und ODP Leg 151 „North Atlantic Gateways“, die wesentlich neue Erkenntnisse in die Vereisungsgeschichte der Nordhemisphäre beitrugen. Mit Kolleg*innen des Geologisch-Paläontologischen Institutes und des Instituts für Meereskunde begann er mit Vorbereitungen eines neuen Sonderforschungsbereichs, der dann erfolgreich von 1985 - 1998 unter dem Titel „Sedimentation im Europäischen Nordmeer“ gefördert wurde.

Mitte der achtziger Jahre richtete die DFG eine Arbeitsgruppe zur Frage ein, wie die marinen Geowissenschaften in Deutschland gestärkt werden können - und dem Ergebnis, dass im September 1987 GEOMAR als ein An-Institut der CAU gegründet und Jörn Thiede als Gründungsdirektor berufen wurden. Mit Energie konnte er die Landesregierung überzeugen, einen enorm visionären Neubau auf dem Seefischmarktgelände in Kiel zu errichten einschließlich erheblicher Investitionen in die Tiefseeforschung. Mit klugen Berufungen aus dem In- und Ausland entwickelte er das GEOMAR zu einem der besten Ozeanforschungszentren der Welt. Trotz vieler wichtiger Management-Aufgaben nahm Jörn Thiede weiter an aufsehenerregenden Expeditionen teil – unter anderem mit dem Forschungseisbrecher POLARSTERN und der schwedischen ODEN, die am 7. September 1991 bis zum Nordpol führte.

Im Herbst 1997 folgte die Bestellung als Direktor des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven, wo Jörn Thiede als Professor für Paläozeanographie an die Universität Bremen berufen wurde. Er gestaltete in dieser Zeit bedeutende Großprojekte wie den Zusammenschluss mit der Biologischen Anstalt Helgoland und der Integration der Küstenstationen Helgoland und Sylt, den Erweiterungsbau des AWI an der Doppelschleuse Bremerhaven, die Midlife-Conversion des Forschungseisbrechers Polarstern und den Neubau der deutschen Forschungsstation auf der Antarktis, Neumayer III. Durch die Zusammenarbeit in der Polarforschung, vor allem mit den Anrainerstaaten der Arktis, vertiefte er besonders die Zusammenarbeit mit Norwegen, Frankreich und Russland. Mit den französischen Partnern wurden die jeweiligen nationalen Programme auf Spitzbergen in die gemeinsame deutsch-französische Station AWIPEV überführt. Er knüpfte fruchtbare Kontakte zum Shirshov Institut in Moskau und zum Arctic and Antarctic Research Institut nach St. Petersburg. Es folgten 1999 in Zusammenarbeit mit Dr. Heidi Kassens vom GEOMAR die Gründung des Otto Schmidt Labors für Polar- und Meeresforschung in St. Petersburg und die Einrichtung des internationalen Master-Studiengangs POMOR an der Staatlichen Universität St. Petersburg mit Beteiligung norddeutscher Universitäten. Jörn Thiede wirkte unermüdlich beim Aufbau der internationalen Polarforschung mit, so war er von 1999-2002 Präsident des European Polar Board und von 2002-2006 Präsident von SCAR, dem International Scientific Committee on Antarctic Research. Von 2003-2006 war er zudem Vizepräsident der Helmholtz Gemeinschaft. Er engagierte sich außerordentlich für ein Europäisches Leuchtturm-Projekt, den Bau eines internationalen eisbrechenden Bohr-Forschungsschiffs Aurora Borealis. An den Standorten, die er leitete, setzte er sich zudem schon früh erheblich für die Förderung von Frauen in der Forschung und in Führungspositionen ein.

Auch nach seiner Pensionierung im Jahr 2007 setzte Jörn Thiede seine Aktivitäten in der internationalen Zusammenarbeit und der Unterstützung von Nachwuchswissenschaftler*innen fort, zunächst von 2008-2011 als Professor für „Geologie und Klima“ am dänischen Geozentrum in Kopenhagen, dann mit der Verleihung des „Megagrant“ des russischen Ministeriums für Bildung und Forschung und der Kathedra für Paläoklimaforschung in Russland seit 2010.

Jörn Thiede erhielt viele Auszeichnungen als Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen, unter anderem den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der DFG (1988), das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (1995), die Ehrenbürgerschaft der Stadt Bremerhaven (2010) sowie den Internationalen Willy-Brandt-Preis (2011). Unter den internationalen Auszeichnungen hervorzuheben sind die Murchinson-Medaille der Geological Society (London), der Grand Prix d'Océanographie der Fondation Rainier III de Monaco, der Chevalier de l'ordre national du Mérite, Frankreich sowie der Honorary Fellow der EUG und die Ehrendoktorwürde der Universität Göteburg, Schweden sowie der Staatlichen Universität St. Petersburg. Ab 1991 wirkte Jörn Thiede als Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz, ab 2004 auch bei ACATECH und ab 2007 bei der Nationalakademie Leopoldina. Er war Mitglied der Königlich-Norwegischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Naturwissenschaften - Russische Föderation, der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAS), der Königlich-Dänischen Akademie der Wissenschaften, und der Academia Europaea.

Das unermüdliche, fröhliche und ambitionierte Wirken von Jörn Thiede an unseren Standorten und für die Erdsystemwissenschaften weltweit sowie sein zukunftsgewandter Expeditionsgeist sind und bleiben uns eine Inspiration. Wir trauern mit seiner Familie und allen, die ihm verbunden waren und sein Werk schätzen.

Die Mitarbeitenden und die Leitungen des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel und des Alfred-Wegener-Instituts Helmholtz-Zentrums für Polar und Meeresforschung.

Kontakt

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Anja Kottsieper
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