150 Jahre deutsche Polarforschung

Ein wissenschaftshistorischer Kommentar zum Jahrestag des Beginns der ersten deutschen Arktisexpedition

Von Christian Salewski

Am 24. Mai 1868 stach Carl Koldewey mit dem für Fahrten im Eis verstärkten Segelschiff Grönland vom norwegischen Bergen aus in See. Sein Ziel – die grönländische Ostküste – erreichte er nicht, sondern kam nur bis Spitzbergen. Zu massiv war das Eis im Nordpolarmeer. Doch die Fahrt sollte sich als der Auftakt für ein Generationenprojekt erweisen, in dem sich bis heute viele Wissenschaftler erfolgreich mit der Erforschung der Polargebiete beschäftigt haben.

Zugegeben: Carl Koldewey war vielleicht nie so prominent wie der britische Polarforscher Robert Falcon Scott. Auch sein Expeditionsschiff, die Grönland, wurde bei weitem nicht so bekannt wie Fridtjof Nansens Fram. Doch dank archiv- und quellenbezogener Arbeit einzelner Wissenschaftshistorikerinnen und –historiker unter anderem aus dem Alfred-Wegener-Institut wissen wir aber, dass die deutsche Polarforschung in fünfzehn Jahrzehnten ihres Bestehens Bedeutendes geleistet hat. Dies ist umso beachtlicher, da sie diese Leistungen im 19. und 20. Jahrhundert im Rahmen von verschiedenen deutschen Staaten mit durchaus unterschiedlichen politischen Systemen und teils mit extremen politischen Ideologien erbringen musste.

Der in den 1860er Jahren weltbekannte Geograph und Kartograph August Petermann, der Initiator der ersten deutschen Polarexpedition, benutzte beispielsweise den erstarkenden Nationalismus in den Staaten des damaligen Deutschen Bundes bzw. Norddeutschen Bundes, um Spenden für die von ihm geförderten Unternehmungen zu akquirieren, obwohl er selbst kein ausgewiesener Nationalist war. In seinem öffentlichen Einsatz dafür wies Petermann immer wieder darauf hin, dass es bei den Expeditionen auch darum gehe, die Seefahrt der deutschen Staaten auf die Höhe anderer Nationen zu bringen. Vor allem England, das seine Expeditionen hervorragend ausgerüstet durch die Royal Navy organisierte, galt sozusagen als Benchmark für die Polarforschung des 19. Jahrhunderts.

Wissenschaftlich verfolgte Petermann einen aus heutiger Sicht eher abstrusen Plan, den er bereits drei Jahre zuvor auf dem Deutschen Geographentag vorgetragen hatte: die Theorie vom eisfreien Nordpolarmeer zu beweisen und auf dem Weg dorthin die bislang völlig unbekannte Ostküste Grönlands nach Norden hin zu erkunden. Die Crew brachte schließlich Daten mit, die nie zuvor gemessen worden waren. Und somit begann auch trotz des verfehlten Ziels eine international angesehene Tradition der deutschen Forschungsschifffahrt. Für den Leiter der von Petermann initiierten Expedition, Carl Koldewey, sollte es nicht die letzte gewesen sein. Schon im Jahr darauf kam es auf der Basis einer Bürgerinitiative und gestützt durch Bremer Kaufleute zur zweiten deutschen Arktisexpedition mit einer erfolgreichen Überwinterung an der grönländischen Ostküste.

Unmittelbar nach Gründung des Deutschen Reichs 1871 setzten sich deutsche Forscher, darunter etwa Georg von Neumayer, und Wissenschaftler aus anderen Ländern trotz des aggressiven Nationalismus in Bismarck-Deutschland und ähnlicher politischer Bestrebungen in Europa und anderswo für ein internationales Polarjahr ein, das erstmals 1882/83 als gemeinsames Forschungsunternehmen mehrerer Nationen in der Arktis und Antarktis ausgerichtet wurde. Damit vernetzten sie sich zusammen mit ihren Kollegen aus anderen Ländern schon früh über die teilweise gerade frisch eingezogenen Grenzen der Nationalstaaten in Europa hinweg.

Diese Vernetzung, aber auch internationale Konkurrenz, und der große Einsatz von einzelnen Wissenschaftlern führte Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer Intensivierung der Antarktisforschung, an der auch Forscher aus dem Deutschen Reich teilnahmen. Der Geomorphologe Erich von Drygalski leitete die erste deutsche Antarktisexpedition, die im August 1901 auf dem Polarforschungsschiff Gauß von Kiel aus startete. Die während dieser Pioniermission gewonnenen Daten wurden drei Jahrzehnte lang ausgewertet und in über zwanzig Bänden publiziert. 1911 realisierte Wilhelm Filchner – finanziert durch eine Lotterie – seinen Plan, in das Weddellmeer vorzudringen, um zu überprüfen, ob von hier aus eine Verbindung zum Rossmeer existiert. Mit seinem Schiff steckte er aber stattdessen neun Monate lang im Meereis fest. Trotzdem gilt Filchner als der eigentliche Entdecker des Weddell-Meeres und des Ronne-Filchner-Schelfeises.

Ab 1910 wurde neben der Antarktis auch Spitzbergen zum Gegenstand der Polarforschung aus dem Deutschen Reich. Neben der Expedition Zeppelins 1910 und neben der unglücklich verlaufenden Schröder-Stranz-Expedition 1912/13 ist die Arbeit der Forscher unter der Leitung von Kurt Wegener auf der deutschen wissenschaftlichen Station in Ebeltofthavn in den Jahren von 1911 bis 1913 zu nennen. Der junge Alfred Wegener nahm mit seiner Teilnahme an zwei dänischen Expeditionen 1906/08 und 1912/13 erneut Grönland in den wissenschaftlichen Fokus.

In der Weimarer Republik hatte wegen ihres Umfangs und ihres wissenschaftlichen Programms vor allem die Grönland-Expedition von Alfred Wegener eine große Bedeutung für die Polarforschung. Die Unternehmung wurde von der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, dem Vorläufer der DFG, relativ großzügig mit Geldern ausgestattet. Auf dieser Expedition wollte Wegener unter anderem mit neuesten seismischen Geräten die Dicke des Inlandeises messen und den Einfluss der Meteorologie Grönlands auf das Wettergeschehen im Nordatlantik untersuchen. Zusammen mit seinen Mitarbeitern, dem Meteorologen Fritz Loewe und Johannes Georgi und dem Glaziologen Ernst Sorge, unternahm er 1929 eine Vorerkundung an der grönländischen Westküste, bevor es während der Hauptexpedition 1930/31 zur Katastrophe kam: Der Aufbau der Station Eismitte scheiterte. Georgi, Sorge und Loewe überwinterten dort unter extremen Bedingungen in einer Eishöhle. Alfred Wegener dagegen starb bei dem Versuch, zusätzliche Ausrüstung nach Eismitte zu bringen. Damit verlor die Polarforschung einen ihrer Pioniere und Vordenker, der in der polaren Meteorologie und der benachbarten Paläoklimatologie mit dem Werk „Klimate der Geologischen Vorzeit“, die er zusammen mit Wladimir Köppen erarbeitet hatte, Erhebliches geleistet hatte. Auch in anderen Disziplinen wie etwa der Geologie hinterließ er Bleibendes. Sein bekanntes Erbe ist hier seine Theorie der Kontinentalverschiebung.

In dieser für die Finanzierung von Forschungsprojekten äußerst problematischen Zeit ist neben Wegeners letzter Grönlandexpedition noch als Polarforschungsaktivität die Polarfahrt des Luftschiffs LZ 127 Graf Zeppelin im Auftrag der Internationalen Gesellschaft zur Erforschung der Arktis mit Luftfahrzeugen (Aeroarctic) im Jahre 1931 nennenswert. Außerdem ist der Umstand erwähnenswert, dass sich trotz knappster finanzieller Ressourcen dank der Sparpolitik des Präsidialkabinetts Brüning vierundvierzig deutsche Institutionen am 2. Internationalen Polarjahr 1932/1933 beteiligen konnten, das sich unter anderem auf Meteorologie und Messtechnik konzentrierte.

Ausschließlich unter dem Primat des Politischen stand dagegen eine Antarktis-Expedition, die 1938/39 vom nationalsozialistischen Deutschland ausging. Ziel der Expedition unter Leitung von Alfred Ritscher mit dem Schiff Schwabenland und zwei Flugbooten war es, die deutsche Wirtschaft unabhängiger von Rohstoffimporten zu machen und auf einen Angriffskrieg vorzubereiten. Durch die Annektierung von Teilen der Antarktis wollte sich das Deutsche Reich Zugang zu Walöl sichern. Dieses Öl wurde zur ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Fetten und zur Versorgung der Industrie mit Schmierstoffen benötigt. Die Planung weiterer Forschungsreisen in die Antarktis wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gestoppt. Alfred Wegener jedoch wurde nach seinem Tod für die wissenschaftspolitischen Zwecke der Nationalsozialisten instrumentalisiert. Andere Polarforscher wurden sogar aktive Verfechter des Regimes.

Wie dieser kursorische Überblick über die ersten Jahrzehnte der deutschen Polarforschung bis zum Zweiten Weltkrieg gezeigt hat, ist in Bezug auf die wissenschaftliche Arbeit dieser Disziplin schon verhältnismäßig viel erforscht worden. Dies gilt im Ansatz auch in Bezug auf die politischen, ökonomischen und kulturellen Zusammenhänge, in denen Polarforscher in jenen Jahren arbeiten mussten. Gleichwohl steht die Polarforschungsgeschichte hierbei aktuell vor enormen Herausforderungen. So sind etwa die drängenden Fragen noch unbeantwortet, wie sich die Community der Polarforscher gegenüber dem NS-Regime verhalten hat, wie sie mit seinen Opfern – darunter Fritz Loewe – umgegangen ist oder inwieweit sie sich für die Kriegsanstrengungen des sogenannten Dritten Reichs funktionalisieren ließ.

Auch ganz am Anfang steht die historische Auseinandersetzung mit der Polarforschung nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik und in der ehemaligen DDR. Dies gilt insbesondere für die Frage nach ihrer Institutionalisierung und ihrer Entwicklung zur Großforschung. Zwar sind auch hierzu erste Arbeiten entstanden, doch noch fehlt ein umfassender und systematisierender Ansatz, der sowohl die Wissenschaftsgeschichte im engeren Sinne wie auch die Kontexte, in denen sie sich entwickelt hat, berücksichtigt. Hierfür kann das Archiv für deutsche Polarforschung (AdP) des Alfred-Wegener-Instituts im Rahmen der gesetzlichen Regelungen die notwendigen Quellen bereitstellen. Doch ist das Archiv für eine gründliche geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Polarforschung bis 1989 und in der Zeit danach auf die Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Partnern angewiesen, die mit verschiedenen Forschungseinrichtungen an den Universitäten Bremen und Oldenburg schon bereit stehen. Auch mit einer außeruniversitären Forschungseinrichtung wie etwa dem Deutschen Schifffahrtsmuseum Bremerhaven (DSM) gibt es in der Region einen wertvollen Kooperationspartner. So kann das DSM das AdP bei der Sammlung von schriftlichen Quellen zur deutschen Polarforschung unterstützen. Außerdem kann das Museum dem Archiv bei der Beantwortung der oben angedeuteten Forschungsfragen wertvolle Hilfe bieten, in dem es zum Beispiel seine Exponate zur Polarforschung als materielle Quellen für eine Erforschung zur Verfügung stellt.

Ein Beispiel für eine solche Kooperation ist die anlässlich des 150. Jubiläums der deutschen Polarforschung entstandene, szenische Lesung „Vom Eis gebissen – Im Eis vergraben. Geschichten aus der deutschen Polarforschung“, die am 23. Mai 2018 im Deutschen Schiffahrtsmuseum das erste Mal aufgeführt wird. Studierende der Geschichtswissenschaft und SchauspielerInnen der bremer shakespeare company haben diese Lesung unter Leitung von Dr. Eva Schöck-Quinteros und Peter Lüchinger in enger Zusammenarbeit mit dem AdP aus Originaldokumenten entwickelt.

Wie auch in den anderen von Schöck-Quinteros und Lüchinger seit 2007 in der Reihe „Aus den Akten auf die Bühne“ realisierten Projekten ist es Ziel des aktuellen studentisches Vorhabens, Akten auf der Bühne zum Sprechen zu bringen und so einem breiten Publikum historische Forschung zu vermitteln. Im vorliegenden Fall ging es in bescheidenem Maße auch darum, die beschriebenen Defizite der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der deutschen Polarforschung im Bereich von Politik, Wirtschaft und Kultur für das 19. und für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu adressieren. Trotzdem ist noch viel Forschung zu diesem Thema nötig.

Dr. Christian Salewski, Bremerhaven