06. November 2025
Online-Meldung

Das 1,5°C-Ziel – ein Nachruf?

Von Helge Goessling
(Foto: Jessica Helmschmidt)

„Die Wahrheit ist, dass es uns nicht gelungen ist, ein Überschießen über 1,5°C in den nächsten Jahren zu vermeiden“, räumte UN-Generalsekretär António Guterres jüngst im Vorfeld des COP30-Klimagipfels ein. Das vor zehn Jahren im Pariser Klimaabkommen formulierte Ziel war bereits damals sehr ambitioniert und verlor über Jahre mit unzureichender gesellschaftlich-politischer Gestaltung und zügiger Erwärmung zunehmend an Plausibilität. Doch bislang ist die 1,5°C-Grenze noch gar nicht wirklich überschritten. Und erlaubt das sinngemäß formulierte Ziel von „deutlich unter 2°C, besser 1,5°C“ nicht auch zumindest ein zeitweises Überschreiten der 1,5°C? Ist es also für einen Nachruf zu früh?

Nähern wir uns dieser Frage einmal aus physikalischer Perspektive. Dazu müssen wir zunächst klären, wie nah wir 1,5°C globaler Erwärmung heute bereits sind. Im letzten Sachstandsbericht des Weltklimarats wurde eine Überschreitung dieser Grenze in den frühen 2030ern vermutet. Dabei wurde wohlgemerkt das 20-jährige Mittel der Temperaturerhöhung betrachtet, ein Wert also, den man genau genommen erst zehn Jahre später feststellen könnte. Nun hat die Erwärmung 2023 jedoch bereits an der 1,5°C-Grenze gekratzt, um sie 2024 schließlich mit 1.55°C (±0.13°C) wahrscheinlich zu überschreiten. Der Unsicherheitsbereich geht übrigens vornehmlich nicht auf aktuelle Messunsicherheiten zurück, sondern auf das vorindustrielle Niveau, welches aus den spärlichen Daten des Zeitraums 1850—1900 geschätzt wird.

Nun verwendet der IPCC nicht ohne Grund ein langjähriges Mittel, sind die Werte einzelner Jahre doch stark von natürlichen Zufallsschwankungen geprägt. So markierte 2023 das Ende einer längeren Phase von La-Niña-Bedingungen im Pazifik, und das folgende El-Niño-Ereignis sorgte vor allem 2024 für einen kräftigen Temperaturschub, der mittlerweile erwartungsgemäß wieder abgeklungen ist. Aktuell stehen die Zeichen im Pazifik eher wieder auf La-Niña, und 2025 wird voraussichtlich wieder unter der 1,5°C-Grenze liegen. Und dennoch: Die hohen Temperaturen der letzten Jahre passen mit der alten Faustformel von 0,2°C Erwärmung pro Dekade nicht mehr recht zusammen und legen einen aktuellen Anstieg von 0,25°C bis 0,3°C pro Dekade nahe. 

Neben der anhaltenden und für die Erwärmung hauptsächlich verantwortlichen Emission zusätzlicher Treibhausgase geht diese Beschleunigung wohl auch auf eine abnehmende Erdalbedo zurück: Ein zunehmender Anteil des einfallenden Sonnenlichts wird von der Erde absorbiert, statt reflektiert zu werden, was neben dem Schwund heller Eis- und Schneeflächen vor allem auf einen Rückgang der Bewölkung zurück geht. Dieser wiederum kann zum Teil auf einen Rückgang der Luftverschmutzung zurückgeführt werden, da immer weniger Schwebeteilchen (Aerosole) als Kondensationskeime für Wolkentröpfchen dienen. Zugleich legt der Wolkenrückgang nahe, dass die treibhausgasbedingte Erwärmung selbst in Form einer verstärkenden Rückkopplung am Werk sein könnte, möglicherweise aufgrund von Änderungen großräumiger Windmuster.

Auch wenn die jüngste Entwicklung für eine gewisse Überraschung gesorgt hat, gänzlich inkompatibel mit Klimamodellen und deren Prognosen ist sie nicht. Vielmehr hilft sie, die leider noch erheblichen Unsicherheiten bezüglich der Reaktion des Klimasystems auf Treibhausgase zu reduzieren. Modelle mit einer mittleren bis stärkeren Erwärmung passen nun besser zu den Bobachtungen, als solche mit milderer Erwärmung.

Was bedeutet die zügige Erwärmung nun für das 1,5°C-Ziel? Das längerfristige Überschreiten kann nicht erst mit zehn Jahren Verzögerung festgestellt werden, denn man kann die natürlichen Schwankungen einigermaßen gut herausrechnen. Das Ergebnis: Wir liegen derzeit bei etwa 1,4°C Erwärmung. Bei der aktuellen Erwärmungsrate würden wir die 1,5°C-Grenze also um 2028/29 überschreiten, und damit etwas früher, als im letzten IPCC-Bericht vermutet. Fügt man die beklagenswerten klimapolitischen Entwicklungen dem Bild hinzu, beginnt sich das 1,5°C-Ziel in Luft aufzulösen.

Zum Schluss zwei Gedankenexperimente, um die Lage noch besser zu verstehen. Was würde geschehen, wenn wir die Treibhausgaskonzentrationen (und andere Faktoren) beim heutigen Zustand einfrieren könnten? Dazu dürften wir nur noch so viel CO2 ausstoßen, wie die natürlichen Kohlenstoffsenken (Ozean und Land) aufnehmen können, was ungefähr einer sofortigen Halbierung und einer anschließenden weiteren Senkung der Emissionen bis nahe null entspräche. Leider würde sich die Temperatur jedoch nicht sofort stabilisieren, sondern aufgrund der nachlassenden Kühlung durch den langsam reagierenden Ozean noch um etwa ein halbes Grad ansteigen – also auf mehr als „deutlich unter 2,0°C“. In der Realität muss das Ziel also sein, die Treibhausgaskonzentrationen deutlich unter das heutige Niveau zu bekommen.

Zweites Experiment: Was, wenn wir die Treibhausgasemissionen sofort auf null senken könnten? Tatsächlich würden die CO2-Konzentrationen aufgrund der natürlichen Senken sofort beginnen, allmählich zu fallen. Eine Zeitlang würde dies allerdings nur ungefähr in dem Maße kühlen, in dem die kühlende Wirkung des Ozeans nachlässt. Im Ergebnis würde die Oberflächentemperatur eine Weile auf dem heutigen Niveau verharren, um dann ganz allmählich zu sinken. In diesem Szenario würden wir also das 1,5°C-Ziel ohne Überschreitung so gerade eben einhalten. In anderen Worten: Die Gesamtmenge an Kohlenstoff, die wir freisetzen dürfen, ohne 1,5°C zu überschreiten, ist jetzt so gut wie aufgebraucht.

Rein physikalisch ist das 1,5°C-Ziel also noch nicht gebrochen. Zugleich sind Szenarien, welche die Temperatur „deutlich unter 2°C“ halten könnten, zunehmend unplausibel. Für einen Nachruf auf das 1,5°C-Ziel ist es genau genommen also noch zu früh. Man verschwendet aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Zeit damit, ihn schonmal zu schreiben und in der Schublade bereit zu legen.

Mehr zum 1,5°C-Ziel: https://www.deutsches-klima-konsortium.de/news/dkk-position-zum-umgang-mit-dem-15c-ziel/

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