Pressemitteilung

Spuren riesiger Urzeit-Eisschilde: Klimageschichte des Arktischen Ozeans muss umgeschrieben werden

[26. September 2013] 

Bremerhaven, 26. September 2013. Geologen und Geophysiker des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), haben an einem Unterseeberg vor der Nordostküste Russlands Spuren großer Eisschilde aus dem Pleistozän entdeckt. Diese belegen zum ersten Mal, dass sich innerhalb der vergangenen 800 000 Jahre im Zuge von Eiszeiten auch im Arktischen Ozean mehr als ein Kilometer dicke Eisschilde gebildet haben. Die Klimageschichte für diesen Teil der Arktis muss nun neu geschrieben werden, berichten die AWI-Wissenschaftler gemeinsam mit südkoreanischen Kollegen in der Titelgeschichte der morgen erscheinenden Oktober-Ausgabe des Fachmagazins Nature Geoscience.

Erste auffällige Kratzspuren und Schlammablagerungen am Meeresgrund nördlich der russischen Wrangel-Insel hatten AWI-Geologe Dr. Frank Niessen und Kollegen schon auf einer Polarstern-Expedition im Jahr 2008 entdeckt. Großflächige Beweise aber konnten sie erst im vergangenen Jahr während einer Arktis-Expedition auf dem südkoreanischen Forschungsschiff „Araon“ sammeln. „Nachdem wir die bathymetrischen und seismischen Daten unserer ersten Fahrt ausgewertet hatten, wussten wir genau, wo wir auf der zweiten Expedition suchen und den Meeresboden mit dem Fächersonar der Araon vermessen mussten“, erzählt Frank Niessen, Erstautor der Studie.

Das Ergebnis dieser Forschungsarbeiten ist eine topografische Karte des Arlis-Plateaus, einem  Unterseeberg, auf dessen Hochebene und an dessen Flanken tiefe, parallel verlaufende Furchen zu erkennen sind – und das auf einer Fläche von 2500 Quadratkilometern und bis in eine Wassertiefe von 1200 Metern. „Solche Kratzspuren kannten wir bisher zum Beispiel aus der Antarktis und Grönland. Sie entstehen, wenn große Eisschilde auf dem Meeresboden aufliegen und im Zuge ihrer Fließbewegung wie ein Hobel mit dutzenden Messern über den Grund schaben. Das besondere an unserer neuen Karte ist, dass sie mit großer Genauigkeit gleich auf vier oder mehr Generationen von Eismassen schließen lässt, die sich in den zurückliegenden 800 000 Jahren von der Ostsibirischen See in nordöstliche Richtung bis weit in den tiefen Arktischen Ozean bewegt haben“, sagt Frank Niessen.

Diese neuen Erkenntnisse stellen die bisherige Lehrbuchmeinung zur Geschichte der Vereisungen in der Arktis auf den Kopf. „Bisher waren viele Wissenschaftler der Überzeugung, dass sich die Megavereisungen stets auf den Kontinenten abgespielt haben – ein Fakt, der für Grönland, Nordamerika und Skandinavien auch nachgewiesen ist. Die nordostsibirische Küstenregion aber, so nahm man an, sei in diesen Eiszeiten trocken gefallen und hätte sich in eine riesige Kältewüste verwandelt, in der es nicht genügend Schnee gab, um über die Jahre einen dicken Eispanzer heranwachsen zu lassen. Unsere Arbeit zeigt jetzt, dass das Gegenteil der Fall war. Mit Ausnahme der letzten Eiszeit vor 21000 Jahren bildeten sich in den flachen Bereichen des Arktischen Ozeans mehrmals Eisschilde, die mindestens 1200 Meter dick wurden und sich vermutlich über eine Fläche so groß wie Skandinavien erstreckten“, sagt Frank Niessen.

Unter welchen klimatischen Bedingungen diese Eisschilde jedoch herangewachsen sind und wann genau sie ihre Spuren auf dem Grund des Arktischen Ozeans hinterlassen haben, können die AWI-Wissenschaftler noch nicht genau sagen. „Wir gehen davon aus, dass die ostsibirischen Eisschilde während verschiedener Eiszeiten entstanden sind, als die damalige globale Durchschnittstemperatur etwa fünf bis acht Grad Celsius unter dem heutigen Wert lag. Dieser relativ geringe Temperaturunterschied hat aber anscheinend mehrmals ausgereicht, um anfänglich dünnes Meereis zu einer riesigen Eiskappe heranwachsen zu lassen. Ein Beispiel, das zeigt, wie empfindlich die Arktis auf Veränderungen im globalen Klimasystem reagiert“, so der Geologe.

In einem nächsten Schritt wollen die AWI-Forscher nun versuchen, mit einem Sedimentkern-Bohrer Bodenproben aus tieferen Schichten des Meeresbodens zu gewinnen, um auf diese Weise mehr Details über die urzeitlichen Eisschilde zu erfahren. „Unser langfristiges Ziel lautet, den genauen zeitlichen Ablauf der Vereisungen zu rekonstruieren, so dass mithilfe der uns bekannten Temperatur- und Eisdaten, die Eisschilde modelliert werden können. Im Anschluss daran wollen wir auf Basis der Modelle herausfinden, welche Klimabedingungen während der Eiszeiten in Ostsibirien herrschten und wie sich zum Beispiel die Feuchtigkeitsverteilung in der Region während der Eiszeiten entwickelt hat“, sagt Frank Niessen. Wissen, das anschließend helfen soll, mögliche Veränderungen der Arktis im Zuge des Klimawandels besser vorherzusagen.

Zudem erwarten Frank Niessen und seine Kollegen für die Zukunft noch eine Vielzahl überraschender Entdeckungen im Arktischen Ozean. „Je weiter die arktische Meereisdecke schrumpft, desto mehr bisher unerforschtes Meeresgebiet wird zugänglich. Heutzutage sind noch immer weniger als zehn Prozent des Meeresbodens im Arktischen Ozean so gut vermessen wie jetzt das Arlis Plateau“, sagt der AWI-Geologe. Und auch diese Untersuchung sei nur aufgrund der großartigen Zusammenarbeit der AWI-Wissenschaftler mit Forschern des südkoreanischen Polarforschungsinstitutes KOPRI gelungen. „Wir haben uns bei dieser Forschung perfekt ergänzt. Unsere südkoreanischen Kollegen hatten die Expedition und die Schiffszeit, wir kannten die Koordinaten jenes Gebietes, in dem wir jetzt die Spuren der Megavereisungen gefunden haben“, so Frank Niessen.

 

Glossar:

Eiszeiten:

Das globale Klima hat sich vor etwa 2,7 Millionen Jahren deutlich abgekühlt. Seitdem haben wir eine permanente Eiskappe auf Grönland. Darauf folgten bis heute etwa 55 Wechsel zwischen Eiszeiten und Warmzeiten. Vor etwa 800.000 Jahren haben das Ausmaß und die Dauer der Vereisungen auf der Nordhemisphäre deutlich zugenommen. Seitdem pendelt das Erdklima regelmäßig zwischen zwei Extremen: Der Zyklus einer Eiszeit gefolgt von einer Warmzeit dauert nun jeweils 100.000 Jahre. Warmzeiten oder Interglaziale wie das "Holozän", in dem wir leben, überdauerten nur etwa 10.000 bis 15.000 Jahre. Danach begannen die Eismassen auf den Kontinenten wieder anzuwachsen, um auf den Höhepunkten der Vereisungszyklen den Meeresspiegel um bis zu 130 Meter gegenüber heute fallen zu lassen. Große Gebiete der nördlichen Kontinente waren dann von kilometerdicken Eismassen überdeckt, die sich von Skandinavien immer wieder auch bis in den norddeutschen Raum ausgedehnt haben. Zum letzten Mal hat sich das vor 21.000 Jahren ereignet. Welche Rolle der Arktische Ozean in diesem Wechselspiel hatte, ist bislang wenig erforscht.

 

Informationen für Redaktionen

Die Studie ist unter folgendem Originaltitel erschienen:

Frank Niessen, Jong Kuk Hong, Anne Hegewald, Jens Matthiessen, Rüdiger Stein, Hyoungjun Kim, Sookwan Kim, Laura Jensen,Wilfried Jokat, Seung-Il Nam and Sung-Ho Kang: Repeated Pleistocene glaciation of the East Siberian continental margin, Nature Geoscience, October 2013, DOI: 10.1038/NGEO1904

Ihr wissenschaftlicher Ansprechpartner am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, ist:

 

Ihre Ansprechpartnerin in der AWI-Pressestelle ist Sina Löschke, (Tel.: 0471-4831-2008, E-Mail: medien(at)awi.de)

 

Folgen Sie dem Alfred-Wegener-Institut auf Twitter  und Facebook. So erhalten Sie alle aktuellen Nachrichten sowie Informationen zu kleinen Alltagsgeschichten aus dem Institutsleben.

 

Das Alfred-Wegener-Institut forscht in der Arktis, Antarktis und den Ozeanen der mittleren und hohen Breiten. Es koordiniert die Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen in der Arktis und Antarktis für die internationale Wissenschaft zur Verfügung. Das Alfred-Wegener-Institut ist eines der 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands

 

Abo

AWI Pressemeldungen als RSS abonnieren


Das Institut

Das Alfred-Wegener-Institut forscht in den Polarregionen und Ozeanen der mittleren und hohen Breiten. Als eines von 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft koordiniert es Deutschlands Polarforschung und stellt Schiffe wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen für die internationale Wissenschaft zur Verfügung.