Temperaturen um minus 30 Grad, eisiger Wind und die Dunkelheit der Polarnacht: Der Winter ist nicht die angenehmste Zeit, um mit einem kleinen Boot vor der Küste Spitzbergens herumzufahren. Genau das aber hat ein Team um Prof. Charlotte Havermans und Dr. Ayla Murray vom Alfred-Wegener-Institut im Winter 2022 getan. Im Kongsfjord im Westen der Inselgruppe haben die Forscherinnen Wasser- und Sedimentproben genommen und die darin enthaltene DNA anschließend verschiedenen Meeresbewohnern zugeordnet. So konnten sie zum ersten Mal einen Überblick darüber gewinnen, was in diesen arktischen Gewässern während der Polarnacht vor sich geht. Und das ist erstaunlich viel, berichtet das Team in einer neuen Studie im Fachjournal Marine Environmental Research.
„Früher dachte man, die Polarnacht sei für Meeresbewohner eine Art Ruhephase, in der sich nicht viel tut“, sagt Charlotte Havermans, Biologin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) und Professorin an der Universität Bremen. Seit etwa zehn Jahren aber gibt es immer mehr Hinweise darauf, dass eine reiche und bisher kaum erforschte Lebensgemeinschaft auch in den dunklen Monaten aktiv ist. Während der vom AWI geleiteten MOSAiC-Expedition in den Jahren 2019 und 2020 fingen Videokameras zum Beispiel zahlreiche Bilder von Quallen ein, die unter dem Eis der Arktis unterwegs waren.
Das ist für Charlotte Havermans besonders spannend. Denn als Leiterin der Nachwuchsgruppe „Arctic Jellyfish“ (ARJEL) beschäftigt sie sich mit dem sogenannten gelatinösen Plankton – also mit Quallen, Rippenquallen und Manteltieren, deren auffällige Gemeinsamkeit ihr glibberiger Körper ist. Bei diesen Meeresbewohnern kann von einer winterlichen Auszeit offenbar keine Rede sein: Die vielen Jungtiere im Wasser deuten eher darauf hin, dass bei etlichen Arten zu dieser Zeit die Fortpflanzung auf dem Programm steht – Dunkelheit und Kälte hin oder her. „Es gibt also noch viel zu entdecken über die Ökologie der Polarnacht“, sagt die Forscherin. Grund genug für sie, eine Spitzbergen-Expedition im Winter 2022 zu planen und zum ersten Mal die biologische Vielfalt des Kongsfjords mittels molekularer Methoden zu dieser Jahreszeit unter die Lupe zu nehmen.
Eine klassische Bestandsaufnahme mit Netzen oder anderen Fanggeräten ist in der Polarnacht mit ihren harschen Bedingungen allerdings äußerst schwierig. Deshalb haben die Forscherinnen zusätzlich auf eine relativ neue Methode gesetzt, die in der Meeresforschung immer beliebter wird. Sie basiert auf der Tatsache, dass die Bewohner der Ozeane im Wasser oder Sediment genetische Spuren hinterlassen. Denn ihre Ausscheidungen und ihre abgestreiften Zellen, ihre Eier und Spermien, ihre Schleimhüllen und ihre toten Körper enthalten Erbmaterial, das sich aus entsprechenden Proben isolieren lässt. Diese Umwelt-DNA, nach dem englischen Begriff „environmental DNA“ auch kurz eDNA genannt, können Fachleute dann den verschiedenen Arten zuordnen. Dafür nutzen sie Gene, die möglichst bei jeder interessanten Art eine etwas andere Sequenz von DNA-Bausteinen aufweisen. Ähnlich wie der Barcode auf den Waren im Supermarkt verrät diese typische Abfolge rasch, um welche Art es sich handelt.
Ein solches DNA-Barcoding ist oft deutlich weniger aufwändig, als Tiere und Pflanzen anhand ihrer äußerlichen Merkmale zu bestimmen. „Außerdem müssen wir dafür viel weniger in das Ökosystem eingreifen, kein Tier wird gefangen“, betont Ayla Murray. „Das ist besonders wichtig, wenn man es mit bedrohten oder sehr empfindlichen Arten zu tun hat.“
Zu letzteren gehören zum Beispiel viele Quallen, die in Netzen oft beschädigt werden und dann optisch kaum noch auseinanderzuhalten sind. Zugleich hat die Analyse der eDNA noch einen weiteren Vorteil: Während man zum Fangen verschiedener Quallenarten mitunter auch unterschiedliche Netze braucht, finden sich ihre genetischen Spuren alle in den gleichen Proben. Es genügt also, an verschiedenen Stellen jeweils sechs Liter Wasser in Flaschen abzufüllen und mit kleinen Greifinstrumenten zehn Gramm Sediment vom Meeresgrund zu holen. „Es ist wirklich erstaunlich, was wir in diesen Proben alles gefunden haben“, sagt Ayla Murray.
Identifiziert haben die Wissenschaftlerinnen die einzelnen Arten anhand eines Gens namens Cytochrom c Oxidase Subunit 1 (COI), das sich als Barcode für viele verschiedene Meeresbewohner eignet. Mit seiner Hilfe konnte das Team in seinen Proben insgesamt 225 Arten nachweisen – von winzigen Plankton-Organismen bis zum riesigen Pottwal. Bei etlichen davon war bisher nicht einmal bekannt, dass sie vor Spitzbergen überhaupt vorkommen. Das gilt zum Beispiel für die Braunalgen Dictyosiphon ekmanii und Saundersella doloresiae, die Rotalgen Ahnfeltia borealis und Boreolithothamnion lemoineae, den Flohkrebs Lembos websteri und den Krill Hansarsia megalops.
Die 16 Fischarten, deren DNA die Forscherinnen gefunden haben, waren zwar als Bewohner der Gewässer um die Inselgruppe bekannt. Dass aber der Heilbutt, der Wandersaibling oder der Kleine Sandaal in der Polarnacht auch im Kongsfjord schwimmen, ist eine neue Erkenntnis. „Überhaupt haben wir in unseren Proben erstaunlich viele Spuren von Wirbeltieren gefunden“, sagt Charlotte Havermans. Seevögel wie die Gryllteiste haben ihre genetischen Fingerabdrücke ebenso im Wasser hinterlassen wie Pottwal, Walross und Sattelrobbe.
Mehr als zufrieden sind die Forscherinnen auch mit ihren neuen Erkenntnissen über das gelatinöse Plankton im winterlichen Kongsfjord. 19 Arten haben sie in ihren Proben gefunden, dazu drei Gattungen, deren Vertreter sich nicht näher bestimmen ließen. Das ist eine reichere Lebensgemeinschaft, als frühere Studien selbst im Sommer nachgewiesen haben. Offenbar lassen sich etliche Arten mithilfe der eDNA deutlich besser aufspüren als mit den bisher üblichen Methoden. Das bestätigen auch die klassischen Netzfänge, die das Team parallel zu seiner genetischen Fahndung durchgeführt hat: Jeder der beiden Ansätze erfasste einen anderen Teil der biologischen Vielfalt, nur fünf Arten und Gattungen ließen sich mit beiden gleichermaßen nachweisen. „Deshalb brauchen wir nach wie vor auch klassische Untersuchungen“, betont Charlotte Havermans. Zumal die eDNA-Analysen bisher noch nicht viel über die Häufigkeit der einzelnen Arten verraten.
„Durch die Kombination beider Verfahren haben wir eine Menge Neues über die Polarnacht in einem der am besten erforschten Fjorde der Arktis gelernt“, freut sich die Forscherin. „Und es gibt noch viel mehr zu entdecken!“ Dafür planen sie und ihr Team auch im Jahr 2026 Forschungsaufenthalte auf Spitzbergen. Sie plädieren dafür, mit weiteren solcher Winter-Studien noch mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Dann könnten die aktuellen Ergebnisse als Vergleichsbasis dienen, um künftigen Veränderungen in den Artengemeinschaften auf die Spur zu kommen.
Denn ebenso wie der Rest des hohen Nordens dürfte auch der Kongsfjord durch die steigenden Temperaturen einen drastischen Wandel erleben. Immerhin erwärmt sich die Arktis rund vier Mal schneller als die Erde im Durchschnitt. Und gerade die Fjorde reagieren besonders empfindlich auf solche Veränderungen. So gibt es bereits Hinweise darauf, dass dort zunehmend Fische und andere Tiere aus dem Nordatlantik einwandern. Im Ballastwasser von Schiffen werden zudem immer mehr Arten aus anderen Meeresregionen eingeschleppt. Und je wärmer es wird, umso leichter können sich diese Neuankömmlinge etablieren. Derweil dürften etliche angestammte Polarbewohner durch den Klimawandel ihre Lebensräume verlieren. „Die Analyse von eDNA eignet sich sehr gut als Frühwarnsystem für solche bedenklichen Veränderungen in der Arktis“, sagt Ayla Murray. „Wir müssen dringend noch mehr über dieses empfindliche Ökosystem herausfinden, um es besser schützen zu können.“
Originalpublikation:
Ayla Murray, Adria Antich, Annkathrin Dischereit, Luisa Düsedau, Clara J.M. Hoppe, Charlotte Havermans: Surveying marine biodiversity using eDNA metabarcoding of seawater and sediment in a high Arctic fjord during the polar night (Kongsfjorden, Svalbard), Marine Environmental Research (2025). DOI: https://doi.org/10.1016/j.marenvres.2025.107443