Interview

"Die Menschheit muss sämtliche Verzögerungstaktiken aufgeben"

[09. August 2021] 

sagt AWI-Klimaforscher Prof. Hans-Otto Pörtner angesichts der Ergebnisse des neuen Weltklimaberichtes der Arbeitsgruppe I des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen, IPCC.

Herr Pörtner, Sie schauen sowohl als Meeresbiologe als auch als Ko-Vorsitzender der IPCC-Arbeitsgruppe II auf den neuen Bericht ihrer Kolleginnen und Kollegen aus der Arbeitsgruppe I. Welche sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten neuen Erkenntnisse zur Physik des Klimas?

In meinen Augen liefert der Bericht drei ganz entscheidende Fortschritte. Erstens ist es der Arbeitsgruppe I gelungen, die Klimasensitivität einzuengen. Das bedeutet, wir können jetzt mit einer größeren Sicherheit sagen, welcher Anstieg der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre welche Erwärmung verursacht. Ein zweiter zentraler Aspekt ist die Tatsache, dass die Wissenschaft jetzt sagen kann, mit welcher Wahrscheinlichkeit Einzelereignisse wie die schweren Brände in Australien oder aber die Hitzeglocke im Westen Nordamerikas auf den Klimawandel zurückzuführen sind. Es geht in der Klimadebatte nicht nur um den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur, sondern auch um Extremereignisse und die Frage, wie sie sich im Vergleich zur Vergangenheit verändern. Eine dritte Schlüsselinformation steckt in der Erkenntnis, dass einige dieser Ereignisse bedrohlicher sind als wir bisher gedacht haben. Diese Aussage wird hoffentlich viele Menschen verstehen lassen, dass der Klimawandel da ist, dass er schon jetzt extreme Seiten hat und dass er letztendlich auch extreme Schänden anrichtet und Menschenleben kostet. Aus Sicht der Arbeitsgruppe II gesprochen, besteht eine Stärke des neuen Berichts darin, dass sich Arbeitsgruppe I vor allem um jene Klimavariablen gekümmert und entsprechende Informationen systematisch zusammengestellt hat, die möglicherweise Auswirkungen auf Ökosysteme und auf den Menschen haben. Auf diese Weise haben sie eine wichtige Schnittstelle zum Bericht der Arbeitsgruppe II geschaffen, der im Februar kommenden Jahres erscheinen wird.

Für ziemlich viel Aufregung und Verwirrung sorgt die Tatsache, dass die Arbeitsgruppe I auf Basis neuer Erkenntnisse zur Klimavergangenheit nun den Temperaturwert der vorindustriellen Zeit angepasst hat – also jenen Wert, mit dem alle aktuellen Messungen verglichen werden. Dieser Schritt sowie die rasant voranschreitende Erwärmung in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten haben nun zu der Aussage geführt, dass die 1,5-Grad-Marke zehn Jahre früher erreicht wird als bislang vermutet. Wie bewerten Sie diese methodische Veränderung und mögliche Auswirkungen?  

Zunächst einmal ist es sinnvoll und nachvollziehbar, dass Arbeitsgruppe I alles daransetzt, die numerischen Aussagen zur Temperatur und anderen Klimavariablen zu präzisieren. Diese sind nun mal Teil der Klimaphysik. Dennoch bereitet mir die Entscheidung, die Ausgangsbasis der Temperaturskala leicht zu verschieben, durchaus Kopfschmerzen; vor allem wenn es um jene Temperaturwerte geht, die im Zusammenhang mit dem Pariser Klimaabkommen diskutiert werden. Die Skalenanpassung um 0,08 Grad Celsius erforderte intensive Abstimmungen über alle drei IPCC-Arbeitsgruppen hinweg, denn natürlich stellte sich auch uns die Frage, ob das Pariser Klimaziel nun noch bei 1,5 Grad Celsius liegt oder ob wir über 1,58 Grad Celsius sprechen und welche Folgen dieser Schritt für all jene Aussagen hat, die von der alten 1,5-Grad-Marke abhängen.

Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Alle Zielwerte im Pariser Klimaabkommen wurden mit Blick auf die Klimafolgen festgelegt. Das heißt, es ging in erster Linie um die Frage, welche Risiken und Auswirkungen lassen sich mindern, wenn die Welt die globale Erwärmung auf bestenfalls 1,5 Grad Celsius begrenzt. Durch die Verschiebung der Ausgangsbasis um 0,08 Grad Celsius verschiebt sich auch das Temperaturniveau für die entsprechenden Auswirkungen ganz leicht. Das bedeutet: Wenn Arbeitsgruppe I jetzt davon spricht, dass eine Erwärmung von 1,5 Grad Celsius zehn Jahre früher eintreten wird als bislang gedacht, dann bedeutet das nicht, dass auch die prognostizierten Auswirkungen einer Erwärmung von 1,5 Grad Celsius zehn Jahre früher eintreten. Mit dem neuen Erwärmungswert sind dann auf unserer Folgen-Skala Auswirkungen von 1,42 Grad Celsius verbunden, eben weil sich der numerische Wert und die Temperaturskala leicht verschoben haben. Umgekehrt haben wir schon im 1,5 Grad-Bericht gesagt, dass die Zeitspanne, in der 1,5 Grad erreicht werden, zwischen den Jahren 2030 und 2052 liegt. So gesehen sollte uns die nachweisliche Beschleunigung der globalen Erwärmung motivieren, sämtliche Verzögerungstaktiken in Sachen Klimaschutz aufzugeben.

Das Pariser Klimaziel bleibt für Sie demzufolge das Maß, an dem sich alle Maßnahmen messen lassen müssen?

Das Pariser Klimaziel ist schlichtweg alternativlos, wie die aktuellen Extremwetter-Ereignisse jeden Tag aufs Neue unterstreichen. Wer heute noch meint, sich nicht um den Klimawandel kümmern zu müssen, der handelt meiner Ansicht nach sträflich. Wir müssen Klimaschutz an allen denkbaren Fronten angehen und alle Optionen ausnutzen. Dazu gehört der Einsatz aller verfügbaren Technologien ebenso wie die Umstellung unserer Ernährungsweise. Außerdem gilt es, unsere Anpassungsmaßnahmen zu maximieren. Wie dringend diese benötigt werden, belegen ebenfalls die aktuellen Hitzeereignisse: In Nordamerika hätten alle hitzebedingten Todesfälle durch entsprechende Anpassungsmaßnahmen vermieden werden können. Der IPCC hatte schon in seinem 2013/14 veröffentlichten 5. Sachstandsbericht gesagt, dass die Menschheit über die notwendigen Gelder und technischen Mittel verfügt, auch wenn die Technologien an vielen Stellen noch nicht in jenen Dimensionen installiert sind, in denen wir sie brauchen.

Dennoch bleibt die Zahl der tatsächlich umgesetzten Maßnahmen noch immer weit hinter den Versprechungen zurück.

Das große Problem der Menschheit ist, dass wir im Zweifelsfall immer noch meinen, wir könnten so weitermachen wie bisher. Ich persönlich stelle diese Auffassung in Frage. Betrachten wir die Klimakrise mal analog zur Corona-Pandemie, in der wir bekanntermaßen in den Lockdown gehen, wenn die Infektionszahlen aus dem Ruder laufen. Wer sagt denn, dass wir für den Fall, dass wir die Klimawende nicht schnell genug schaffen, nicht auch in einen Klima-Lockdown gehen müssen, um einen drastischeren Klimawandel und seine Auswirkungen zu vermeiden? Ein solcher Klima-Lockdown würde bedeuten, dass wir alle Aktivitäten, die hohe Emissionen verursachen, einstellen, um auf diese Weise drastische Emissionsreduktionen zu erreichen und auf dem 1,5 Grad-Weg zu verbleiben. Man denke nur an die Zeitskalen, die ein solches Vorhaben benötigen würde – sie wären viel länger als bei COVID. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Mit der Klimaphysik kann man nicht verhandeln, ebenso wenig wie mit der Biologie des Menschen und aller anderen Lebewesen. Wenn wir das nicht akzeptieren und entsprechend handeln, werden wir schnell in eine Situation kommen, in der wir merken, dass wir mit dem Rücken ganz nah an der Wand stehen.

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