Pressemitteilung

Üppiges Korallenparadies in der kühlen und dunklen Tiefsee westlich von Irland

[20. Juni 2003] 

Am Freitag, den 20. Juni 2003 besuchte der deutsche Forschungseisbrecher “Polarstern” des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven nach einer dreiwöchigen internationalen Expedition zur Erforschung der Tiefwasserkorallenriffe westlich von Irland den Hafen Galway/Irland. Über vierzig wissenschaftliche Expeditionsteilnehmer von verschiedenen europäisch geförderten Forschungsprojekten und aus Meeresforschungsinstituten in Irland, Belgien, England, Frankreich und Deutschland wurden ausgeschifft, bevor “Polarstern”, bereedert durch die Reederei F. Laeisz – Hamburg/Rostock/Bremerhaven, zu ihrer nächsten Etappe der Sommer-Expedition 2003 in das Nordpolarmeer aufbrach.

Das Besondere des ersten Abschnitts dieser Expedition war, dass “Polarstern” als ein modernes, effizientes, aber großes und mit ihren elf Metern Tiefgang sehr stabiles und wetterbeständiges Mutterschiff für den modernsten Tiefseeforschungsroboter (ROV) der Welt, den “Victor 6000” des Ifremer (Institut Francaise de Recherche pour l´Exploitation de la Mer) diente. “Victor 6000” ist ein unbemannter Tiefseeroboter, der bis 6000 Meter tief tauchen kann, vier Tonnen wiegt und mit Hilfe von ferngesteuerten Kameras und Manipulatoren ermöglicht, in-situ Proben und Daten von bisher nicht erreichter Präzision zu gewinnen. Im Rahmen dieser internationalen Expedition wurde das bisher intensivste Beprobungsprogramm der in den irischen Gewässern vorkommenden Tiefwasserkorallen mit einem ROV durchgeführt. Auf zahlreichen Tauchfahrten, die zusammen mehr als hundert Stunden für “Victor 6000” am Meeresboden bedeuten, wurden einzigartige wissenschaftliche Daten entlang von weit über hundert Kilometer abgefahrener Strecke mit dem “Victor 6000” gewonnen. Systematisch wurden Begleituntersuchungen mit Bodengreifern, schiffsgebundenen Sonarsystemen, Echoloten und weiteren Instrumenten durchgeführt. Die Expedition begann am 2. Juni 2003 in Brest, wo das über hundert Tonnen wiegende Zubehör des “Victor 6000” innerhalb einer Woche auf “Polarstern” installiert wurde. “Victor 6000”ist nach 1999 zum zweiten Mal auf “Polarstern” und wird im Rahmen einer engen französisch-deutschen Kooperation in der Polar- und Meeresforschung bereits zum dritten Mal von internationalen Arbeitsgruppen genutzt. Die irischen Expeditionsteilnehmer kamen aus marinen Forschungsinstituten in Galway, Cork und Dublin.

Der Nordostatlantik westlich von Irland ist nicht nur ein reiches Fischereigebiet, sondern auch eine Schatzkammer für Neuentdeckungen in der Meeresforschung. Zu den unerschlossenen und noch nicht verstanden Schätzen gehören bis zu mehrere hundert Meter hohe Korallenriffe, die sich in einem eng begrenzten Tiefenintervall um 1000 Meter Wassertiefe herum wie ein Gürtel entlang des gesamten europäischen Kontinentalrandes von der Biscaya bis in die Barentssee erstrecken. Gefunden wurden sie inzwischen auch, obgleich seltener, vor Grönland und Nordamerika; sogar vereinzelt im Pazifik. Dass es merkwürdige, kleinwüchsige Korallen in diesen Gebieten gab, war den irischen, englischen und norwegischen Fischern und Meeresbiologen seit über hundert Jahren bekannt, da diese immer wieder in Fangnetzen gefunden wurden.

Lophelia pertusa, wie die wichtigste Koralle dieser Lebensräume heißt, hat sich an die kühlen und tiefen, vor allem aber dunklen Lebensräume der borealen Kontinentalränder angepasst. Dass sie jedoch nicht nur vereinzelt, sondern in riesigen Kolonien zusammen mit einem grossen Reichtum an anderen Meeresbodenorganismen bis zu mehrere hundert Meter hohe Riffe, so genannte Mounds, aufbauen konnten, die am Rande der Porcupine Seabight und der Porcupine Bank besonders häufig und typisch sind, ist eine ganz neue Erkenntnis. Schätzungen zufolge, geht man davon aus, dass ungefähr 60% dieser Tiefwasserkorallen entlang des europäischen Kontinenentalrandes in irischen Gewässern vorkommen.

Diese Erkenntnisse wurden erst durch geophysikalische Vermessungen dieser Gebiete ermöglicht, die halfen, die Strukturen unter der Oberfläche des Meeresbodens zu entziffern und die die rundliche, hügelähnliche Form dieser Riffe, die manchmal unter mächtigen Schichten jüngerer Meeresablagerungen ertrunken sind, erkennen ließen. Da sie sehr poröse mächtige Gesteinskörper in großer Wassertiefe bilden, sind sie nicht nur für die Wissenschaftler spannende Forschungobjekte, sondern sie finden auch ein hohes Interesse bei der Erdöl- und -Gasindustrie, die permanent nach potentiellen Speichergesteinen für fossile Kohlenwasserstofflagerstätten an den tieferen Teilen der Kontinentalränder sucht.

Korallenriffe sind eigentlich typisch für tropische Meeresgebiete, wo sie nah unter der Meeresoberfläche reiche und für Riffe typische Vergesellschaftungen von Meeresbodenorganismen sammeln, die in den vom Sonnenlicht durchfluteten obersten Wasserschichten eine hohe biologische Aktivität und einen schnellen Nährstoffumsatz entwickeln. Wie und wann Riffe in den kühlen, tiefen und dunklen Gewässern der Porcupine Seabight und der Porcupine Bank entstehen konnten oder heute existieren, ist bisher ein großes und ungelöstes Rätsel.

Sie reichen mit ihren Wurzeln bis weit in alte Meeresbodenablagerungen hinein. Entstanden sie schon im Tertiär, also vor einigen Millionen Jahren und haben sie seither hier existieren können? Woher beziehen sie ihre Nahrung? Durch kalte, nährstoffreiche Quellen aus dem Untergrund oder aus den außerordentlich reichen Ansammlungen von Nahrungspartikeln, die in der Wassersäule in deutlich zu erkennenden Schichten angreichert sind? Warum findet man sie in klar abgegrenzten einzelnen Strukturen in bestimmten Tiefenintervallen und nicht überall? Welche Organismen nehmen am Aufbau der Riffstrukturen teil? Ist die Vermutung richtig, dass Fische in den Wassermassen über den Riffen besonders häufig sind und warum könnte das so sein? Wird das Riffparadis durch die Schleppnetzfischerei zerstört oder empfindlich gestört?

Der wissenschaftliche Fahrtleiter dieser Etappe der Expedition war Prof. Dr. Jörn Thiede (AWI), der Fahrtleiter der nächsten Etappe Galway-Tromsö/Norwegen wird Dr. Michael Klages (AWI) sein.
Weitere Informationen, Bilder und kurze Filmsequenzen zu unserer Expedition sind im Internet unter www.polarstern-victor.de einzusehen.

Bremerhaven, 20.6.03

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Das Alfred-Wegener-Institut forscht in den Polarregionen und Ozeanen der mittleren und hohen Breiten. Als eines von 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft koordiniert es Deutschlands Polarforschung und stellt Schiffe wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen für die internationale Wissenschaft zur Verfügung.