"Wir kommen in Gebiete jenseits unserer Vorstellungskraft"

Ab Herbst 2019 driftet der deutsche Forschungseisbrecher Polarstern ein Jahr lang durch das Nordpolarmeer. Auf der MOSAiC-Expedition erforschen Wissenschaftler aus 19 Nationen die zentrale Arktis im Jahresverlauf. Sie überwintern in einer Region, die in der Polarnacht nahezu unerreichbar ist. Was treibt sie zu dieser Mammutaufgabe an? Ein Gespräch mit Expeditionsleiter Markus Rex vom Alfred-Wegener-Institut.

Herr Rex, warum lassen Sie sich zusammen mit anderen Wissenschaftlern ein Jahr lang im Nordpolarmeer einfrieren?

Keine andere Region der Erde hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so schnell erwärmt wie die Arktis. Hier befindet sich quasi das Epizentrum der globalen Erwärmung. Gleichzeitig verstehen wir diese Region bisher kaum. Vor allem im Winter ist uns die zentrale Arktis nahezu unbekannt. Wir wollen daher erstmals umfassend die dortigen Prozesse im Klimageschehen erkunden.

Was erhoffen Sie sich davon?

Die Arktis ist eng gekoppelt an das Wettergeschehen in unseren Breiten. Wir sehen schon jetzt Klimaveränderungen in der Arktis, die auch das Wetter und Klima bei uns beeinflussen. Gerade Anfang des Jahres hatten wir einen Extremfall: In der Zentralarktis war es wärmer als in Deutschland. Wir werden unser Klima nicht korrekt vorhersagen können, wenn wir keine zuverlässigen Prognosen für die Arktis bekommen. Deshalb brauchen wir viele Messdaten, die wir nur vor Ort machen können.

Reichen die bisherigen Expeditionen dafür nicht aus? Warum muss es ein ganzes Jahr sein?

Wenn wir an die Arktis denken, stellen wir uns oft das Nordkap oder Spitzbergen vor. Das sind Regionen, die wir ohne Probleme ganzjährig erreichen. Diese Orte liegen aber noch relativ weit im Süden. Auf der MOSAiC-Expedition dagegen kommen wir in Gebiete, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegen, weil sie so gut wie niemand im Winter erreicht hat. Wir werden uns die ganze Zeit nördlich des 80. Breitengrades aufhalten. Einen Großteil der Zeit befinden wir uns sogar im direkten Polbereich nördlich des 87. Breitengrades. Das ist sogar schon so weit im Norden, dass wir kaum noch Polarlichter sehen werden. Dort ist das Eis im Winter selbst für einen Eisbrecher zu dick. Der Weg über die Drift ist somit die einzige Möglichkeit die Zentralarktis im Winter zu erreichen.

So wie es der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen schon vor 125 Jahren vorgemacht hat.

Genau! Nansen hat damals in einer spektakulären und immer noch wegweisenden Expedition erstmalig diese Eisdrift gezeigt. Damit hat er eine Pionierleistung vollbracht. Niemand vor ihm ist so weit im Norden gewesen. Jedoch waren die wissenschaftlichen Messungen zu dieser Zeit noch sehr begrenzt; das Instrumentarium bestand im Wesentlichen aus einem Thermometer und ein paar weiteren einfachen Messgeräten – großartig für seine Zeit, aber nichts im Vergleich zu den detaillierten Beobachtungen von Klimaprozessen wie wir sie brauchen und wie wir sie auch aus anderen Teilen der Welt haben. Wir wiederholen diese Expedition jetzt zum ersten Mal mit einem großen und gut ausgerüsteten Forschungsschiff. Inmitten der zentralen Arktis arbeiten wir dann mit den besten Messinstrumenten, die die Welt heute zu bieten hat. So können wir die Umweltprozesse in dieser abgelegenen Region zum ersten Mal im Detail erforschen. Sicher ist schon jetzt, dass wir höhere Temperaturen und weniger Eis als Nansen messen werden.

Wie muss man sich den Ablauf der Expedition vorstellen?

Es gibt in der zentralen Arktis nur den Ozean, der von einer Eisschicht überzogen ist. Die Naturgewalt dieser Eisschicht bestimmt den Ablauf unserer Expedition. Wir starten im September 2019 und fahren mit dem Eisbrecher Polarstern in das zu dieser Jahreszeit dünne sibirische Meereis. Dort suchen wir eine stabile Scholle, an der wir das Schiff festmachen können und mit der wir dann fest eingefroren in das während des Winters immer dicker werdende Eis durch die zentrale Arktis driften. Ein Jahr später werden wir auf diesem Weg die Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen erreichen. Wir werden innerhalb des Jahres in sechs Fahrtabschnitten mit insgesamt 600 Menschen in der zentralen Arktis präsent sein.

Das hört sich nach einem sehr großen logistischen Aufwand an.

Für die logistische Unterstützung der Expedition sind zusätzlich zur Polarstern vier weitere Eisbrecher notwendig. Außerdem kommen mindestens drei Forschungsflugzeuge zum Einsatz, von denen einige auf einer Eislandebahn neben der Polarstern landen und betankt werden. Diese „Tankstelle beim Nordpol“ erlaubt es den Flugzeugen, erstmals längere Zeit in der Zentralarktis zu messen. Außerdem richten wir Treibstoffdepots auf den Inseln vor der sibirischen Küste ein, um von dort aus die Polarstern mit Helikoptern erreichen zu können und Menschen evakuieren zu können – ein Notfallplan für medizinische Notfälle an Bord. Um das Schiff herum bauen wir ein ganzes Netzwerk von Stationen auf dem Eis auf. Einige dieser Stationen besuchen wir regelmäßig mit Helikoptern von der Polarstern aus, in einem Umkreis von bis zu 50 Kilometern vom Schiff. Das sind logistische Operationen, die es in diesem Teil der Erde noch nie gegeben hat.

Warum kam seit Nansen niemand mehr auf die Idee einer Transpolardrift?

Seit Nansen wagte sich kaum jemand im Winter in die zentrale Arktis und in die Transpolardrift. Es gab nur einige russische Driftcamps mit einfachen Hütten auf Eisschollen und das kleine in das Eis eingeschlossene Segelschiff Tara einer privaten Organisation. Die wissenschaftlichen Möglichkeiten auf diesen kleinen Plattformen waren aber begrenzt. Die MOSAiC-Expedition bringt zum ersten Mal überhaupt einen modernen Forschungseisbrecher mit seinen unvergleichlichen wissenschaftlichen Möglichkeiten im Winter in die zentrale Arktis.

Was zeichnet MOSAiC gegenüber diesen Expeditionen aus?

Ganz klar die Größenordnung. Es ist die größte Forschungsexpedition in die zentrale Arktis, die es je gegeben hat. Wir arbeiten mit über 60 Institutionen aus 19 Ländern zusammen. Allein die Anzahl der Leute, die mitfahren, sprengt alle Dimensionen. Es hat auch noch nie so einen vergleichbaren Einsatz von fünf Eisbrechern gegeben, die wir in einer ausgefeilten Choreografie einsetzen, sodass wir immer zum richtigen Zeitpunkt wieder Nachschub an Treibstoff und Lebensmitteln bekommen und Personal austauschen können. Außerdem hat es noch nie einen vergleichbaren Einsatz von Forschungsflugzeugen in der zentralen Arktis gegeben. Normalerweise haben unsere Flugzeuge gar nicht die Reichweite, um längere Messzeiten in der Zentralarktis zu verbringen. Dies alles zusammen wird zu einem Durchbruch im Verständnis des arktischen Klimasystems führen.

Wie groß ist die Eisscholle, auf der Sie sich einrichten werden?

Kurz gesagt: Wir suchen nach etwas Großem und Stabilem. Unser Plan ist es, im offenen Wasser oder sehr dünnem neuen Meereis an einer massiven älteren Eisscholle festzumachen. Die sollte einen Durchmesser von mehreren Kilometern haben und mindestens eineinhalb Meter dick sein.

Wie bereitet man sich auf so eine Expedition vor?

Wir haben noch gefühlt zweitausend Dinge zu tun, bevor es losgeht. Die Polarstern wird randvoll mit Ausrüstung sein. Neben den Containern für die Messinstrumente nehmen wir zum Beispiel auch Pistenbullys und neuartige, extra gebaute Eisfräsen mit, um damit die Landebahn auf dem Eis zu bauen. Wir werden Tetris spielen müssen, um alles irgendwie an Bord unterzukriegen. Momentan entwickeln wir dafür die Konzepte und schließen Verträge mit unseren logistischen Partnern ab. Es wird auch eine ganz neue psychologische Erfahrung für uns, dass wir mit einem Forschungsschiff so lange im Eis festsitzen. Es ist wichtig, dass das Team an Bord die ganze Zeit eine gute Stimmung behält, wenn es von Dunkelheit und Kälte umgeben tausende von Kilometern durch die Arktis driftet. Aber ich bin mir sicher, dass das kein großes Problem wird. Als Wissenschaftler leben wir an Bord davon, dass wir täglich neue Messdaten bekommen und uns damit beschäftigen.

Und wie sieht es mit Eisbären aus?

Wir müssen selbstverständlich alle Leute, die das Schiff verlassen, vor Eisbären schützen. Jede Gruppe auf dem Eis wird deshalb bewaffnet sein. Gerade während der Polarnacht können wir Eisbären nur mit Infrarotsichtgeräten aufspüren. Das ist für uns völlig neu, denn bei bisherigen Expeditionen haben wir nur im Hellen auf dem Meereis gearbeitet.

Bereiten Ihnen diese Gefahren Angst?

Angst haben wir grundsätzlich nicht. Wir treffen Vorkehrungen, um das Risiko der Expedition für alle Teilnehmer zu minimieren. Wir entwickeln Konzepte für alle denkbaren Szenarien, die wir als potenzielle Gefahrenquellen verstehen. Deshalb wird es auch für jeden Punkt der Route mögliche Evakuierungswege geben. Ein Restrisiko bleibt bei Expeditionen in die Polargebiete fern aller Zivilisation und abseits jeder schnellen Erreichbarkeit immer und kann auch nicht verhindert werden. Alles in allem sind wir aber sehr optimistisch und das Alfred-Wegener-Institut hat eine unvergleichliche Erfahrung in der sicheren Organisation von Polarexpeditionen. Gerade vor ein paar Monaten hat uns die internationale Community der Polarforschung bestätigt, dass wir weltweit als einziges Institut in der Lage sind, eine Expedition in dieser Größenordnung zu koordinieren.

Interview: Sebastian Grote

Expeditionsleiter

Prof. Dr. Markus Rex