Framstraße

Eine Fressorgie in der Tiefsee

In der arktischen Tiefsee kann Größe entscheidend sein - zum Beispiel bei der Frage, wie schnell es die Abermillionen Tiefseebewohner schaffen, einen Walkadaver zu verspeisen. Das ergab ein außergewöhnliches Experiment am AWI-Tiefseeobservatorium HAUSGARTEN, mit dem die AWI-Biologen herausfinden wollten, wie sich der plötzliche Eintrag großer Futtermengen auf das Leben der Mikroorganismen im Meeresboden auswirkt.

Den einsetzenden Festschmaus beobachteten die Forscher mit Zeitrafferkameras, die an der Trägerkonstruktion befestigt waren. Auf den Bildern aus 2500 Metern Tiefe tummeln sich schon wenige Minuten nach der Futterablage als erste Verwerter so viele Aalmuttern, dass der Kadaver kaum noch zu sehen ist. Dazu gesellen sich zahllose Flohkrebse der Art Eurythenes gryllus.

An der tiefer gelegenen Station fallen im selben Zeitraum Myriaden von Flohkrebsen der Art Uristes sp. über das Walfleisch her. Die Tiere drängen sich so dicht an dicht, dass sie wie ein lebender Teppich die Kadaverhälfte und den umliegenden Meeresboden bedecken (siehe Video).

"Uristes-Flohkrebse sind deutlich kleiner als die in 2500 Metern Tiefe auftretende Art Eurythenes. Dieser Größenunterschied erklärt auch, warum die Aasfresser an der flacheren Station die Walhälfte innerhalb von nur fünf Wochen vollständig skelettiert hatten, während ihre kleineren Verwandten in 5400 Metern Tiefe ihre Walhälfte bis dahin nur teilweise aufgefressen hatten. Wer größer ist, frisst auch mehr", berichtet Thomas Soltwedel.

Und wie erging es den Fadenwürmern bei dem Fressgelage? "Unsere Sedimentprobennahmen in unmittelbarer Nähe des Kadavers ergaben, dass in beiden Tiefen unterschiedliche Arten das Artenspektrum dominierten. Dabei stellten wir jedoch fest, dass die Artenvielfalt in 5400 Metern Wassertiefe geringer war als jene an der flacheren Station", berichtet Christiane Hasemann, AWI-Expertin für die Taxonomie der Tiefsee-Nematoden.

Im Laufe des Fressgelages stieg erwartungsgemäß die Dichte der Fadenwürmer im Sediment. Außerdem setzten sich die Allesfresser unter den Fadenwürmern gegen jene Arten durch, die sich auf eine bestimmte "Jagdmethode" oder Beute spezialisiert haben. Keine Rolle spielte dagegen der Abstand zum Kadaver: "Unsere Ergebnisse sprechen dafür, dass die Fische und Flohkrebse das organische Material so weiträumig verteilen, dass entgegen unserer Ausgangshypothese die Entfernung zum Kadaver im unmittelbaren Umkreis keinen Einfluss auf die Nematoden-Gemeinschaft hat", erklären die Wissenschaftler.

Mit ein bisschen Glück fallen in der Framstraße künftig häufiger fette Fleischbrocken vom "Himmel". "Auf unseren Expeditionen beobachten wie immer häufiger Barten- und Zahnwale in den Gewässern vor der Eiskante. Die Wahrscheinlichkeit, dass einer von ihnen eines Tages eines natürlichen Todes stirbt und in die Tiefe sinkt, steigt also mit den Bestandszahlen", sagt Thomas Soltwedel. Die Aalmuttern, Flohkrebse, Fadenwürmer und sonstigen Kleinstlebewesen in der Tiefsee der Framstraße dürfte diese Nachricht sicherlich freuen.

Text: Sina Löschke