Gletscherforschung

Wir haben jetzt die scharfe Brille auf

Neue Technik kann die Wissenschaft oft einen Quantensprung voranbringen – vor allem in schwierigen Feldern wie der Gletscherforschung, wo es die Wissenschaftler mit Eisströmen und -schilden zu tun haben, die bis zu vier Kilometer dick sind. Den Glaziologen des Alfred-Wegener-Institutes ist im vergangenen Jahr ein solcher Riesenschritt gelungen. Mithilfe des neuen AWI-Ultra-Breitband-Eisradars können die Wissenschaftler nun den Gletschern und Eisschilden vom Flugzeug aus bis in ihr Felsbett schauen. Wie genau diese Technik funktioniert und welche Erkenntnisse sich die Experten erhoffen, erläutern Sektionsleiterin Prof. Angelika Humbert und Eisradar-Experte Dr. Tobias Binder im Interview.

Frau Humbert, Herr Binder: Sie haben das neue Eisradar in den zurückliegenden Monaten sowohl in Grönland als auch bei einer Messkampagne in der Antarktis getestet. Wie zufrieden sind Sie mit den Messdaten?

Angelika Humbert: Wir sind begeistert. Das neue Ultra-Breitband-Eisradar produziert Datensätze mit viel höherer Auflösung als sein Vorgängermodell. Das heißt, wie können jetzt zum Beispiel die verschiedenen Schichten und Falten im Gletscher sehen oder auch weit in die Tiefe reichende Spalten, die wir mit dem alten Gerät nicht erkennen konnten. Wenn wir jetzt auf unsere Messdaten schauen, fühlt es sich an, als hätten wir endlich die scharfe Brille auf, eben weil wir alle diese Konturen im Eis tatsächlich sehen.

Tobias Binder: Besonders beeindruckend ist die Auslösungstiefe des neuen Radars. Bei Messungen mit dem alten Eisradar gab es mehrere Hundert Meter über dem Felsbett häufig eine datenfreie Zone, in der wir gar nichts erkennen konnten. Mithilfe des neuen Radars erkennen wir in Grönland auf rund 95 Prozent der überflogenen Eisflächen nicht nur topografischen Details des Felsbettes unter dem Eisschild, sondern auch die Beschaffenheit der ersten Eisschichten darüber. Wir können also durch den Gletscher hindurchschauen, erhalten völlig neue Einblicke und somit die Chance, wichtige Mechanismen wie zum Beispiel das Fließen des Eises grundsätzlich besser zu verstehen. 

   

Dr. Tobias Binder

Einmal für Laien erklärt: Wie funktioniert das neue Eisradar?

Tobias Binder: Unser Eisradar funktioniert im Grunde wie jedes andere Radar. Das heißt, es sendet in kurzen Abständen Radiowellen aus, die dann vom Eis und dem Untergrund reflektiert und vom Gerät wieder aufgezeichnet werden. Das Radar berechnet dann, wie viel Zeit zwischen dem Senden und dem Empfangen der Wellen vergangen ist. Anhand dieses Wertes wiederum können wir den Abstand der reflektierenden Fläche berechnen. Da die Wellen je nach Beschaffenheit des Eises unterschiedlich tief eindringen und somit auch in unterschiedlicher Tiefe reflektiert werden, erhalten wir am Ende einen steten Informationsstrom aus verschiedenen Eistiefen. Mit seinen 24 Empfangskanälen kann das neue Radar außerdem Reflexionen aus unterschiedlichen Richtungen empfangen, sodass wir in der Lage sind, die Signale diesen Richtungen zuzuordnen. Auf diese Weise werden zum Beispiel die Darstellungen der Felsbett-Topografie viel genauer.

Angelika Humbert: Im Gegensatz zu Flugzeug- oder Schiffsradaren, die Radiowellen in einer feststehenden Frequenz aussenden, deckt unser neues Ultra-Breitband-Eisradar einen ganzen Frequenzbereich ab. Das heißt, es sendet Radiowellen mit einer Länge von 150 bis 600 Megahertz aus und empfängt die Reflexionen über 24 Kanäle. Das alte Radar besitzt lediglich einen Empfangskanal. Diese große Sende-und Empfangsbandbreite garantiert uns die hohe Auflösung unserer Messdaten. Sie ist aber auch der Grund, warum wir mit dem neuen Multifrequenz-Eisradar in einer Flugstunde bis zu 2,5 Terabyte Daten aufzeichnen. Das ist mehr als wir mit dem alten Radarsystem während einer ganzen Antarktis-Kampagne dokumentiert haben. Wir machen jetzt also auch in der Gletscher-Feldforschung unsere ersten Erfahrungen mit Big Data.

Welche neuen Erkenntnisse über Gletscher und Eisschilde konnten Sie auf den ersten Flugkampagnen mit dem neuen Radar gewinnen?

Angelika Humbert: Auf Grönland sind wir im Sommer 2016 unter anderem Transekte über den 79-Grad-Nord-Gletscher geflogen und haben den typischen Weg des Eises über eine Strecke von 200 Kilometern beobachtet – also vom Inlandeis aus gesehen dem Gletscher folgend bis zur Aufsetzlinie. So nennen wir jene Stelle, an welcher der Gletscher ins Meer mündet und die Eiszunge den Kontakt zum Boden verliert. Wir haben uns im Anschluss die innere Struktur des Gletschers angesehen und die Topografie des Bodens unter dem Eisstrom analysiert. Diese Bodenrauigkeit ist ganz entscheidend, wenn wir das Fließen des 79-Grad-Nord-Gletscher am Rechner modellieren wollen, um anschließend in der Lage zu sein, vorherzusagen, ob und in welchem Ausmaß sich sein Fließtempo im Zuge des Klimawandels beschleunigen wird. Bisher gehört dieser Gletscher zu den ganz wenigen grönländischen Eisströmen, die noch nicht ihre schwimmende Eiszunge eingebüßt haben.

Tobias Binder: In der Antarktis haben wir im zurückliegenden Sommer leider nur wenige Flüge durchführen können. Das neue System ist aufgrund seiner vielen technischen Bestandteile nämlich auch ziemlich schwer. Aus diesem Grund fallen die Messflüge nun 500 Kilometer kürzer aus als mit dem alten, leichteren Eisradar. Wir haben es jedoch bis zur Kohnen-Station auf dem antarktischen Inlandeisplateau geschafft und das bis zu 2780 Meter dicke Eis im Umkreis der Station vermessen. Für diesen Teil des antarktischen Eisschildes fehlten uns bisher die hochaufgelösten Daten der untersten Eisschicht. Inwiefern unsere Messungen mit dem neuen Radar hier bessere Ergebnisse und Einblicke liefern, werden die Datenanalysen zeigen. Eine Aufgabe, die wir in den kommenden Wochen angehen werden.

Angelika Humbert: Das neue Eisradar innerhalb kurzer Zeit sowohl in der Arktis als auch in der Antarktis einzusetzen, hat unsere Kollegen in der AWI-Logistik vor enorme Herausforderungen gestellt – eben weil die Technik so viel wiegt. Ohne die hervorragende Arbeit unserer Kolleginnen und Kollegen im AWI-Flugzeugteam bekämen wir Wissenschaftler nicht einen Datensatz. Deshalb ein großes Dankeschön an dieser Stelle. 

Das Interview führte Sina Löschke.

       

     

Der technische Fortschritt in Zahlen

Altes Eisradar
(AWI-EMR)

Neues Eisradar
(Ultra-Breitband-System)

Zahl der Antennen-Anbauten23
Grundfläche pro Anbau185 cm x 110 cm406 cm x 132 cm
Gewicht pro Anbau42 kg203 kg
SignalformBurstChirp
Frequenzbereich150 MHz150-600 MHz
Pulslängen60 ns, 600 ns1000 - 10000 ns
Zahl der Sendekanäle18
Sendeleistung pro Kanal1585 W500 - 1000 W
Zahl der Empfangskanäle124
Datenrate pro Empfangskanal2 MB/s28 MB/s
Datenmenge pro Flugstunde7,2 GB2419 GB