Auf der Suche nach dem ältesten Eis und den neuesten Daten

Regelmäßig begeben sich die Forscher des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) bei Minus 20 Grad auf Zeitreise, denn die Geheimnisse der Vergangenheit sind im Eis von Grönland und der Antarktis gespeichert. Um sie zu entschlüsseln, werden Eisbohrkerne gewonnen. Diese werden anschließend mit aufwändigen Methoden aufbereitet und genau analysiert, und zwar in einem Eislabor. Eine Einrichtung, die es weltweit in dieser Form, Größe und Ausstattung nur drei Mal gibt: In Japan, den USA - und Bremerhaven.

Um zu verstehen, was passieren wird, müssen wir verstehen, was passiert ist. Was klingt wie die Einleitung zu einem Gedichtband ist das, woran die Forscher im Eislabor tagtäglich arbeiten. „Wir erforschen das Eis in seinem ursprünglichen Zustand, lange bevor der Mensch darauf einwirken konnte“, sagt Frank Wilhelms, Glaziologe und Leiter der Eiskerngruppe in Bremerhaven. Da nicht einfach an der Zeituhr gedreht werden kann, untersuchen die Wissenschaftler mit aufwändigen Messmethoden Eiskerne. Diese kann man sich als etwa zehn Zentimeter dicke, rund drei Kilometer lange Stangen aus Gletschereis vorstellen. Proben, für die tief in die Eisschilde der Antarktis und Grönlands gebohrt wird.

Hintergrund ist, dass im Eis Informationen über die Zusammensetzung der Atmosphäre aus vergangener Zeit gespeichert sind. Schicht für Schicht lagert sich nämlich über die Jahrzehnte Schnee ab, der wiederum Luft und Spurenstoffe aus der Atmosphäre einschließt und so konserviert. Für die Forscher des AWIs ein riesiger Schatz - doch an die gespeicherten Informationen zu kommen, ist alles andere als einfach.

Noch während einer Expedition vor Ort wird das Eis zersägt und erstmals untersucht, um einen möglichst originalgetreuen Einblick in die Zusammensetzung zu bekommen. Doch für manche Messungen werden aufwendige Ausrüstungen, die nicht mit an die entlegensten Orte der Welt genommen werden können, oder einfach mehr Zeit  benötigt. So ist es wichtig, das Jahrtausendealte Eis sicher nach Bremerhaven zu transportieren.

Dort angekommen wird das Eis in einem der vermutlich kältesten Arbeitsplätze der Welt gelagert und untersucht. Bei Minus 20 Grad Celsius stehen die Wissenschaftler dick eingepackt in warme Kleidung oft stundenlang im Eislabor. Ein Labor, das von seiner Aufmachung her eher an eine typische Werkstatt erinnert. Zwischen weißen Kunststoffkisten, in denen die inzwischen auf etwa einen Meter geschnittenen langen Eiskerne wie große Juwelen sicher verstaut sind, stehen große Werkbänke mit rasiermesserscharfen Sägeblättern, um das Eis millimetergenau zerschneiden zu können.

Die wissenschaftlich spannende Phase beginnt schließlich mit der Analyse der Funde. „Wenn die ersten Daten kommen, stellt sich ein richtiges Hochgefühl ein. Das ist es ja, wofür man vorher jahrelang im Feld unter widrigen Bedingungen gearbeitet hat“, sagt Frank Wilhelms. Mit verschiedenen Methoden werden dann Antworten aus dem Eis herausgekitzelt, die Aufschluss über die Entwicklung des Klimas geben.

Eine Methode ist die Untersuchung von chemischen Spurenstoffen, zu denen zum Beispiel Staub oder Salze gehören. Untersucht man den Eiskern auf seinen Sulfatgehalt, können die Forscher feststellen, wann in der Vergangenheit Vulkane ausgebrochen sind. Eine weitere Frage ist, wie sich die Temperatur etwa in der Antarktis vor hunderttausenden von Jahren entwickelt hat. Aufschluss darüber gibt die Sauerstoff-Isotopie des Wassers. Grundlage dieser Methode ist, dass das Verhältnis verschieden schwerer Isotope des gleichen Atoms temperaturabhängig ist. Das Eis wird also geschmolzen und auf das Isotopen-Verhältnis hin untersucht.

Neben der Erforschung der Klimageschichte liegt der zweite Fokus des Eislabors auf der Erforschung der Dynamik des Eises. „Eis ist ein Material, das viel arbeitet. Wenn wir in der Lage sind vorherzusagen, wie es sich unter permanent verändernden Bedingungen entwickelt, sind wir auch in der Lage bei Phänomenen wie der Erderwärmung viel präzisere Voraussagen darüber zu treffen, wie sich die Eisschilde verhalten“, erklärt AWI-Glaziologin Ilka Weikusat. Erforscht wird dies etwa über Eiskristalle. Dazu gehört die Analyse der Mikrostruktur.

Auf die Untersuchung von Eiskernen übertragen heißt dies, dass dünne Scheiben von Eis unter verschiedene Lichtquellen gelegt werden, um herauszufinden, wie sich die Eiskristalle zum Beispiel bei Druck verhalten. Dabei kommen farbenfrohe Darstellungen heraus. Was für den Laien wie Kunst aussieht, sind für Glaziologen Farbcodierungen, die die Ausrichtung der Eiskristalle darstellen. „Wir betrachten, wie die Eiskristalle aussehen, wie groß sie also sind und welche Form sie haben“, sagt Ilka Weikusat. Und die kann sehr unterschiedlich sein: Es gibt ebenmäßige und asymmetrische Eiskörner, eckige und zackige, langgezogene und verbeulte.

„Dann schauen wir uns an, in welche Richtung die einzelnen Kristalle einer Probe ausgerichtet sind. Denn es gibt Vorzugsrichtungen, in die sich die Eiskristalle im Gletscher anordnen - und die hängen von den physikalischen Bedingungen wie Druck, Temperatur und Verformungsrichtung ab.“ Eine zeitaufwändige, millimetergenaue Arbeit, die aber notwendig ist, um auf lange Sicht die Entwicklung der Eisschilde in unserem Klima verstehen zu können.

Mit seinen Erforschungen der Eiskerne nimmt das AWI weltweit eine Vorreiterrolle ein. „Meistens haben Labore einen bestimmten Fokus: Entweder wird die Klimageschichte untersucht oder die Dynamik. Am AWI ist das Besondere, dass wir beide Zweige untersuchen“, erklärt Ilka Weikusat. Nur in Japan und den USA gibt es noch zwei weitere, ähnlich ausgestattete Labore. „Allerdings ist die Bremerhavener Konstellation, bei der ein ganzheitlicher Blick auf unser Probenmaterial geworfen werden kann, einmalig.“

Jedoch bringt der Betrieb eines solchen Labors große Herausforderung mit sich, denn immer wieder stehen große Investitionen an, um zu gewährleisten, dass die Technik in entscheidenden Phasen unter den extremen Bedingungen zuverlässig arbeitet. Eine Umgebung, die jedoch nicht nur die Technik fordert - auch der Mensch muss sich anpassen: „Minus 20 Grad oder kälter ist nun mal nicht unser Komfortbereich. Hinzu kommen ganz praktische Herausforderungen wie die Frage, mit welchen Handschuhen man arbeitet. Ganz ohne geht nicht, dann frieren die Finger ein. Dicke Skihandschuhe gehen aber auch nicht, denn die werden nach einiger Zeit steif“, gibt Ilka Weikusat einen Einblick in die Alltagsprobleme der Forscher.

Katastrophal wäre ein Stromausfall. Aus diesem Grund ist das Labor mit Notromaggregaten ausgestattet, sodass die Kühlung auch im Notfall funktioniert. „Eis ist ein sehr aktives Material, weil es dicht am Schmelzpunkt ist. Verändert sich die Temperatur, verändert sich auch das Eis – deshalb ist es wichtig, dass immer eine Mindesttemperatur von Minus 20 Grad gegeben ist, um die Proben in einem möglichst originalen Zustand zu halten“, erklärt Frank Wilhelms. Vorgebeugt wird auch für den Fall, dass in der Zukunft noch bessere und detailliertere Messmethoden zur Verfügung stehen. Deshalb wird stets nur die Hälfte eines Bohrkerns bearbeitet, die andere wird archiviert.

Insgesamt also ein enormer Aufwand, um an die verschlüsselten Informationen im Eis zu gelangen. Aber er sich lohnt: Der älteste derzeit analysierte Eiskern ist achthunderttausend Jahre alt und gibt unter anderem Auskunft über die Konzentrationen von Kohlendioxid und Methan in den vergangenen Hunderttausend Jahren. Diese Auskunft ist mit keinem anderen Klimaarchiv zu bekommen.

Text: Helena Kreiensiek

Was für den Laien wie Kunst aussieht...

Dünnschnitte der Eiskerne werden unter verschiedene Lichtquellen gelegt. Die Farbcodierungen verdeutlichen die Ausrichtung der Eiskristalle.