„Noch fliegt Ryanair nicht in die Arktis“

Seit Mai dieses Jahres findet das Jahr der Polaren Vorhersagen – oder Year of Polar Prediction – statt. Bis Mitte 2019 werden die Messungen von Wetter, Meereis und Ozean verstärkt, um die Vorhersagen in der Arktis und Antarktis zu verbessern. Der Klimawissenschaftler Thomas Jung ist für die Koordination und Umsetzung des Year of Polar Prediction zuständig. Im Interview berichtet er, wie sich Wetter und Klima an den Polen ändern, wie gut die Wetter- und Meereisbedingungen heute schon vorhersagbar sind, und welche Nutzungsinteressen in einer sich ändernden Arktis aufkommen könnten.  

Weswegen sind Vorhersagen in Polargebieten so wichtig und müssen überhaupt verbessert werden?

Wir reden hier über eine sehr raue Umgebung, wo Wetter und Meereis einen deutlichen Einfluss auf die Menschen haben, die dort leben oder arbeiten. Wenn man hier Aktivitäten plant, dabei aber Extremereignisse wie zum Beispiel einen Sturm, vermeiden möchte, dann muss man wissen, was einen erwartet. Tatsache ist, dass Vorhersagen für die Arktis und die Antarktis keine wesentliche Rolle gespielt haben. Im Vergleich zu den Wetterberichten, die wir für die mittleren Breiten haben, klafft also für die Polarregionen eine große Lücke. Bisher konnten indigene Völker ihr eigenes traditionelles Wissen für Vorhersagen nutzen, um die Entwicklung des Wetters und der Meereisbedingungen zum Beispiels für den nächsten Tag abzuschätzen. Nun aber ändert sich das Klimasystem, und es scheint, als ob traditionelle Erfahrungswerte ihre Gültigkeit verlieren.

Wie sieht die Zukunft der Arktis aus?

Wir wissen, dass das Eis zurückgehen wird: Es wird dünner und weniger werden. Des Weiteren werden die Lufttemperaturen teils erheblich steigen. Dadurch taut der Dauerfrostboden, und vor allem die Küsten werden stärker erodieren. Das ist natürlich insbesondere dort schwierig, wo Siedlungen und Häuser auf Permafrostboden gebaut sind. Wir reden hier über die Auswirkungen der sogenannten 'arktischen Verstärkung' des Klimawandels, oder auch 'Arctic Amplification': Die Arktis erwärmt sich fast dreimal so schnell im Vergleich zu anderen Regionen auf der Erde. Was an Umweltveränderungen in der Arktis auf uns zukommt, wird deutlich ausgeprägter sein als das, womit wir zum Beispiel für Bremerhaven rechnen. Zusätzlich erwarten wir in Polarregionen auch Veränderungen durch das Schmelzen der Eiskappen, was mit dem Anstieg des Meeresspiegels einhergeht.

Als Folge der Umweltveränderungen wird sich auch aus sozioökonomischer Sicht einiges in der Arktis ändern...

Ganz klar gibt es Nutzungsinteressen in der Arktis, zum Beispiel für den Tourismus. Ein Besuch der Arktis oder Antarktis, wo man sonst nicht so leicht hinkommt, gilt als eine der letzten wenigen Abenteuer auf unserer Welt. Meines Wissens fliegt Ryanair bisher noch nicht in die Arktis.

Was ist mit der Schifffahrt?

Die Schifffahrt spielt in Zukunft ebenfalls eine größere Rolle. Über die Arktis von Europa nach Asien zu reisen, ist deutlich kürzer. Aber auch in Zukunft werden solche Reisen nur saisonal möglich sein. Das bedeutet, dass man vermutlich auch im Jahr 2050 im Winter nicht mit normalen Schiffen durch die Arktis kommt. Trotzdem muss man mit mehr Tourismus- und Containerschiffsverkehr in der Arktis rechnen. Im Fischfang wird sich ebenfalls viel ändern. Wenn sich die ‚Atlantifizierung’ der Arktis mit zurückziehender Eiskante immer weiter nach Norden fortsetzt, müssen sich auch die Fangflotten entsprechend anpassen. Um all diese Aktivitäten und Veränderungen verstehen und managen zu können, braucht man gute Vorhersagen. 

Verändert sich nur in der Arktis das Wetter, oder hat es auch Einfluss auf Mitteleuropa?

Ich glaube, darauf können wir noch keine zufriedenstellende Antwort geben. Auffallend ist, dass der schnelle Rückgang des arktischen Meereises seit dem Jahr 2000 mit einem häufigeren Auftreten von kalten Wintern in Europa in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts zusammenfiel. Aber das ist zunächst einmal nur ein Zusammenhang, der durchaus zufällig sein kann. Das EU-Projekt APPLICATE, das wir hier am Alfred-Wegener-Institut koordinieren, ist eines der Projekte aus dem Horizon2020-Programm, mit dessen Hilfe diese Frage beantwortet werden soll. Wenn es um Westeuropa geht, dann wird der Einfluss meiner Meinung vermutlich nicht so stark sein. Unser Wetter hier in Europa wird erheblich von dem beeinflusst, was im Nordatlantik und über Nordamerika passiert. Das ist unsere 'Wetterküche'. Auf Regionen wie Eurasien, China, Japan, Kanada und Nordamerika scheint das Wetter an den Polen einen erheblich stärkeren Einfluss zu haben. Etwas anders sieht es aus, wenn man die längerfristige Klimaentwicklung betrachtet: Man könnte sich zum Beispiel vorstellen, dass die Änderungen in der Arktis die Ozeanzirkulation über dem Nordatlantik verändern und damit einen indirekten Einfluss auf Europa ausüben. Hier gibt es noch einiges zu erforschen.

Wie genau kann man heute schon das Wetter und die Meereisbedingungen in den Polargebieten vorhersagen? 

Das hängt davon ab, was man betrachtet! Meereisdeformation kann man beispielsweise nicht mehr als einige wenige Tage vorhersagen. Die Meereisdicke in manchen Teilen der Arktis kann man aber für einige Wochen bis mehrere Monate vorhersagen, Veränderungen im tiefen Ozean sogar für Monate bis Jahre. Die Grenzen der Vorhersagbarkeit werden ganz wesentlich durch die Atmosphäre geprägt. Alles, was direkt vom atmosphärischen Wetter angetrieben wird – zum Beispiel also Schneestürme oder die Entstehung von Rinnen im Meereis, sogenannten Leads – kann man nur für ein paar Tage vorhersagen. Eis selbst ist im Vergleich dazu träge, es hat sozusagen ein Gedächtnis. Eine dicke Meereisschicht wirbelt ein Sturm nicht gleich durcheinander. Daher kann man bestimmte Eisbedingungen auch für längere Zeiträume vorhersagen. Wie viele Monate im Voraus man die jährliche Minimalausdehnung des Eises im September tatsächlich vorhersagen kann, wird derzeit noch untersucht.

Wie finde ich heraus, ob es morgen am Nordpol stürmt?

Ich glaube nicht, dass diese Information einfach verfügbar ist. ‚Nordpol’ kann man vermutlich nicht einfach auf einer Wetter-App finden. Zumindest meine vom Deutschen Wetterdienst kann das nicht.

Wird sich das mit dem Year of Polar Prediction ändern? Kann ich dann einen täglichen Wetterbericht für die Arktis auf der Webseite vom Deutschen Wetterdienst abrufen? 

Ja, im Prinzip schon! Ich würde mir wünschen, dass wir irgendwann einen einfach zugänglichen Vorhersage-Bericht für die Meereisbedingungen in der Arktis haben, aus dem hervorgeht, wie sich die Meereisbedingungen in den nächsten Stunden bis Tagen oder möglicherweise Wochen verändern. Die meisten Akteure in der Arktis oder Antarktis brauchen Informationen für ganz verschiedene Zeitabschnitte: Wo genau fahre ich jetzt hin, und kann ich dort momentan überhaupt arbeiten? Wie soll ich für die nächste Woche planen? Dafür muss ich wissen, was wann passiert.

Wie hängt das Year of Polar Prediction mit dem Internationalen Polarjahr zusammen?  

Im Internationalen Polarjahr gab es viele verschiedene Themenfelder, in denen die jeweiligen Projekte sehr gut koordiniert waren. Das International Polar Year (IPY) insgesamt zu koordinieren, war aber vermutlich schwieriger, weil deutlich mehr Disziplinen unterwegs waren. Das reichte von sozioökonomischen Fragen über die Geowissenschaften bis hin zur Atmosphärenphysik. Das Year of Polar Prediction, abgekürzt YOPP, ist thematisch deutlich fokussierter. Es geht um die Verbesserung von Wetter und Klimavorhersagen in Polarregionen. Im Prinzip kann man YOPP durchaus als ein Vermächtnis oder Nachfolge-Projekt vom IPY betrachten. Als das IPY Ende der 2000er Jahre zu Ende ging, waren die Veränderungen in der Arktis besonders drastisch und man hat überlegt, in welchen Bereichen Teile des IPY fortgeführt werden können. Damals sind die polaren Vorhersagen in den Fokus gerückt.

Was konkret wird im Jahr der Polaren Vorhersagen passieren? 

Zum einen wird mehr gemessen, damit wir beispielsweise besser verstehen, welche Vorgänge in der atmosphärischen Grenzschicht stattfinden. Dieses Prozessverständnis fließt dann in bessere Modelle und bessere Vorhersagen ein. Verschiedene Feldkampagnen im Rahmen von YOPP gehen genau diese Frage an. Zusätzlich wird versucht, die Lücke im Beobachtungssystem in der Arktis als auch in der Antarktis über einen bestimmten Zeitraum möglichst weitgehend zu schließen. Zum Beispiel werden zusätzliche Radiosonden, Wetterstationen und Bojen eingesetzt, die die Atmosphäre, das Meereis und den Ozean vermessen. Diese speziellen Beobachtungsperioden finden in der Arktis von Februar bis März und von Juli bis September 2018 statt, in der Antarktis von Mitte November 2018 bis Mitte Februar 2019. Mit den so gewonnenen Daten können Modellierer dann Experimente durchführen, um festzustellen, ob und welche der zusätzlichen Messungen die Vorhersagen sowohl in der Arktis als auch in unseren Breiten wirklich verbessern.

Braucht man alle diese zusätzlich durchgeführten Messungen, die doch wahrscheinlich sehr teuer sind?  Reichen nicht auch wenige kritische, aber finanzierbare Messpunkte, um verlässliche Vorhersagen zu machen? 

Die Weiterentwicklung des Beobachtungssystems, das Aufgreifen der Daten und entsprechende Empfehlungen zu geben, was zu tun ist und dabei gleichzeitig nachhaltig finanzierbar bleibt, sehe ich als eine wesentliche Aufgabe der Modellierung an, die im Rahmen des Year of Polar Prediction stattfindet. Aber es gibt weitere Fragen, die mit Hilfe der Modelle adressiert werden: Wie gut können wir zurzeit die Meereisausdehnung z.B. in der Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen vorhersagen, und was ist mit verbesserten Modellen überhaupt möglich? Es wird eine Menge Vorhersagbarkeitsstudien geben, also Tests, welche zusätzlichen Messungen uns wie viel nutzen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Entwicklung der so genannten Datenassimilation: Darunter versteht man das Zusammenbringen von Beobachtungen und Modellen. Die gekoppelte Datenassimilation für Atmosphäre, Meereis, Ozean und Land ist eine Herausforderung, die im Rahmen von YOPP angegangen werden muss. 

Wo bleibt der Mensch im Year of Polar Prediction? 

Die naturwissenschaftlichen Aktivitäten dominieren zwar, es gibt aber auch sozialwissenschaftliche und ökonomische Komponenten bei YOPP. So werden sozioökonomische Studien durchgeführt, um herauszufinden, wo genau der Nutzen von verbesserten Vorhersagen für verschiedene Akteure in der Arktis liegt. Hier besteht durchaus noch eine Menge Forschungsbedarf.

Worin liegt konkret der Nutzen des Year of Polar Prediction? Schließlich hat die Weltorganisation für Meteorologie – kurz WMO – das Projekt ja mit einem gewissen Anwendungsbezug ins Leben gerufen.

Die WMO repräsentiert die Wetter- und Klimavorhersagezentren, also jene Institutionen, die für die Vorhersagen von Umweltbedingungen verantwortlich sind. Hat man die WMO als Partner an Bord, dann hat man die Unterstützung der Vorhersagezentren, wie beispielsweise Environment and Climate Change Canada, das Europäische Zentrum für Mittelfristige Wettervorhersagen (ECMWF) oder auch das Meteorologische Institut in Norwegen. Gleichzeitig kann man deren Ressourcen mit nutzen, so dass der Transfer von Wissen hin zu den Anwendern von verbesserten Vorhersagen auch tatsächlich gewährleistet ist. Schließlich verfügen die Wettervorhersagezentren über einen großen Kundenstamm, oder sie liefern die Rohdaten an Firmen, die wiederum Kunden beliefern. Wenn das ECMWF neuerdings auch Meereisbedingungen vorhersagen kann – woran es derzeit aktiv arbeitet – basieren die Entscheidungen von bestimmten Akteuren in den Polargebieten auf den Produkten des ECMWF.

Worin besteht Ihre Rolle im Year of Polar Prediction?

Polare Vorhersagen sind ein Thema, das viele hier in Europa, in Nordamerika, in Russland, aber auch in China und auf der Südhemisphäre interessiert. Bei den internationalen Aktivitäten ist es wichtig, Aktivitäten nicht zu duplizieren – dafür müssen wir koordinieren. Wie können wir beispielsweise im Bereich der Modellierung international zusammenarbeiten, sodass wir bestimmte Fragen, zum Beispiel nach den Unsicherheiten in den Modellen beantworten können? Das kann ein Land nicht ganz allein, auch das Alfred-Wegener-Institut nicht. Stattdessen brauchen wir internationale Partner, mit denen wir uns abstimmen. Es nützt ja niemandem, wenn zehn Bojen innerhalb desselben Quadratkilometers von unterschiedlichen Instituten ausgesetzt werden. Da braucht es einiges an Abstimmung. Man muss sich treffen, miteinander reden, gemeinsam planen, Werbung machen. Darin besteht im erheblichen Maße meine Aufgabe. Als Koordinator für das Year of Polar Prediction bin ich verantwortlich, dass genau das funktioniert. Ich habe dabei die Unterstützung einer Steuergruppe, der Weltorganisation für Meteorologie und vom Internationalen Koordinationsbüro hier am Alfred-Wegener-Institut. Und natürlich bekommen wir jede Menge Unterstützung von denjenigen, die das Interesse am Year of Polar Prediction teilen.

Woran werden wir sehen, ob das Year of Polar Prediction erfolgreich war?

Bei der Koordination und Planung müssen wir uns damit auseinandersetzen, wie wir den Erfolg des Projektes messen können. Man könnte dabei hunderte, ja tausende Sachen machen. Aber wo setzen wir Prioritäten, um einen möglichst großen Nutzen zu generieren? In unseren Treffen geht es nicht so sehr darum, sich über die aktuellsten Forschungsergebnisse zu unterhalten, sondern tatsächlich darum, die Schwerpunkte und Prioritäten festzulegen, um mit YOPP erfolgreich zu sein. Den Erfolg messen wir beispielsweise daran, ob wir es schaffen, für bestimmte Zeiträume sowohl in der Arktis als auch in der Antarktis Empfehlungen für das Beobachtungssystem abzuleiten, die es erlauben die Vorhersagegüte messbar zu verbessern—in den Polarregionen, aber auch in den mittleren Breiten.

Das Interview führte Kirstin Werner