Laptewsee

In der Kinderstube des arktischen Meereises

Seit Jahren schrumpft die Meereisfläche in der Arktis während der Sommermonate immer stärker. Ob und wie sich dieser Trend fortsetzen wird, kann man nur herausfinden, wenn man das Entstehen und Vergehen des Meereises besser versteht. AWI-Wissenschaftler wie der Meereisphysiker Thomas Krumpen erforschen deshalb vor allem jene Region, die als arktische Eismaschine gilt – die Laptewsee in Nordostsibirien.

Wenn Thomas Krumpen im Frühling über die Laptewsee fliegt, dann sieht der AWI-Forscher nichts als Eis. Das Meer vor der Küste Sibiriens erscheint wie eine zerborstene Milchglasscheibe, wie ein chaotisches Mosaik aus kantigen Bruchstücken in Grau- und Weißtönen.

Die Laptewsee ist so etwas wie die Kinderstube des arktischen Meereises. Hier, weit im Nordosten Russlands, weht der Wind im Winter unerlässlich vom Land aus über das Meer. Er drückt dabei gegen die Eisschollen auf dem Wasser und schiebt sie vor sich her –  weg vom Festland, geradewegs Richtung Norden. Die Eisdecke in Küstennähe reißt im Zuge dessen immer wieder auf. Flächen offenen Wassers, die sogenannten Polynien, entstehen. Bei bis zu minus 40 Grad Celsius kalter Luft aber frieren sie sofort wieder zu. Dünneis entsteht, zerbricht und wird erneut vom Wind davongeschoben...  

Auf diese Weise bildet sich in der Laptewsee ständig neues Meereis, das anschließend in das Nordpolarmeer hinaustreibt. Erst im Mai, wenn es auch in Nordostsibirien wärmer wird, hält die Eismaschine der Arktis inne – so lange, bis Anfang Oktober der eisige Winterwind zurückkehrt.

Der Meereisforscher Thomas Krumpen kennt dieses Zusammenspiel aus Frost, Wind und Wasser in- und auswendig. Gemeinsam mit Wissenschaftlern vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung (Kiel) und russischen Experten des staatlichen Instituts für Arktis und Antarktisforschung (AARI) in St. Petersburg forscht er regelmäßig im Gebiet der Laptewsee. Thomas Krumpen versucht, Antworten auf die Frage zu finden, warum die arktische Meereisdecke im Sommer immer stärker abschmilzt. So ist die Fläche der sommerlichen Eisbedeckung in den vergangenen 25 Jahren von rund 8 auf 5 Millionen Quadratkilometer geschrumpft. „Wie viele andere Forscher sind auch wir davon überzeugt, dass das verstärkte Schmelzen auf den Klimawandel zurückzuführen ist. Unsere Arbeit zielt nun darauf ab, besser zu verstehen, welche physikalischen Wechselwirkungen zwischen dem Meereis und dem Arktischen Ozean sowie zwischen dem Meereis und der Atmosphäre bestehen und wie sich diese Prozesse im Zuge der Erwärmung verändern“, sagt Thomas Krumpen.

Zeitraffer: Der Rückgang der Meereisbedeckung in der Arktis

Schmelztod in der Framstraße

Die Untersuchungen in der Laptewsee liefern Hinweise darauf, wie viel Eis sich im Winter neu bildet. Um das Schicksal des arktischen Meereises zu ergründen, müssen die Wissenschaftler aber auch herausfinden, wie viel Eis aus der Arktis wieder hinauswandert. Einer der wichtigsten Eisausgänge ist die Framstraße – der Seeweg zwischen Grönland und Spitzbergen. Zwischen 500.000 und 800.000 Quadratkilometer Meereis treiben im Durchschnitt pro Jahr über diese Wasserstraße aus dem Arktischen Ozean in den Nordatlantik – das entspricht in etwa der doppelten Fläche Deutschlands.

Motor dieses Eistransportes ist die Transpolardrift. Diese große Strömung drückt das Eis wie ein Förderband von den russischen Randmeeren des Arktischen Ozeans über den Nordpol Richtung Framstraße. „Unser Ziel ist es, die Eisbilanz der Arktis besser abzuschätzen, indem wir die Eisentstehung in der Laptewsee und die Verluste über die Framstraße miteinander in Beziehung setzen“, sagt Thomas Krumpen.

Meist übersteht nur jenes Meereis den ersten Sommer, das in der Laptewsee schon früh im Winter gebildet wird. Es wird von der Transpolardrift erfasst und in die zentrale Arktis mitgeschleppt. Dort kann es zwei bis drei Jahre oder älter werden und zu mehrere Meter dickem Packeis anwachsen, ehe es über die Framstraße in den Atlantik gelangt und dort schmilzt. Eis, das jedoch erst gegen Ende des Winters entsteht, schmilzt zumeist, ehe es aus der Laptewsee hinauswandern kann.

Thomas Krumpen und sein Kollege Stefan Hendricks sind in den vergangenen Jahren oft per Flugzeug oder Helikopter über die Laptewsee und die Framstraße geflogen, um die Eisdicke zu messen. Bei ihren Messflügen kommt der EM-Bird zum Einsatz, ein Gerät, das aus der Luft die elektrische Leitfähigkeit im Untergrund misst und so die Mächtigkeit des Eises ermittelt.

Zeitraffer: Der Rückgang des alten Eises in der Arktis

Frühe Anzeichen der großen Schmelze

Eine solche Messkampagne führten die AWI-Meereisphysiker auch im vielzitierten Rekordjahr 2012 durch. Damals schrumpfte die arktische Meereisdecke auf eine Fläche von etwa 3,4 Millionen Quadratkilometer, die bis heute kleinste Ausdehnung seit Beginn der Satellitenmessungen im Jahr 1979.

Thomas Krumpen hatte diesen Negativrekord im gewissen Sinne vorhergesehen. Denn: Bereits im März 2012 war er gemeinsam mit Kooperationspartnern aus dem russisch-deutschen Forschungsvorhaben „System Laptewsee“ über die Eismaschine Laptwesee geflogen und hatte überraschend viel dünnes Eis gefunden. „Dort, wo im Winter 2007/2008 das Meereis bis zu 1,5 Meter dick war, stießen wir im Frühjahr 2012 auf bis zu 400 Kilometer breite Eisflächen mit einer Dicke von gerade einmal 50 Zentimetern. Ein Ergebnis, anhand dessen wir annehmen konnten, dass im Laufe des Sommers vor allem das Eis im Bereich der Laptewsee großflächig wegschmelzen würde“, sagt er.

Da in der zentralen Arktis seit Jahren aufgrund der Erderwärmung die Menge des alten, dicken Eises abnimmt, erhöht sich die Driftgeschwindigkeit des Meereises. Infolgedessen steigt auch die Menge an Eis, das aus der Laptewsee herauswandert. Wenn dann wie im Winter 2012 noch starke ablandige Winde wehen, bilden sich riesige Flächen dünnen Eises, die im Frühjahr sofort schmelzen.

Zusätzlich beschleunigt wird dieses Abschmelzen durch die Tatsache, dass sich die frei werdenden dunklen Wasserflächen im Sommer sehr viel schneller aufheizen als das Meereis. „Dieses warme Wasser verstärkt das Abschmelzen des restlichen Eises. Ein Effekt, den wir im Jahr 2012 gut beobachten konnten. So war zum Beispiel die Nordostpassage, der Seeweg vom Nordatlantik an der sibirischen Küste entlang in den Pazifik, relativ früh im Jahr eisfrei“, sagt Thomas Krumpen.

Eiswächter am Meeresboden

Dem Meereisphysiker ist es jetzt zusammen mit seiner Kollegin Polona Itkin gelungen, die Beobachtungen aus der Laptewsee anhand von mathematischen Modellrechnungen und Satellitendaten nachzuvollziehen. Sie haben also die bloße Vermutung bestätigen können, dass das Eis, das sich im Winter und im zeitigen Frühjahr in der Laptewsee bildet, das Schicksal des arktischen Eises in der Nordostpassage im Sommer tatsächlich entscheidend mitbestimmt.

„Jetzt interessiert uns, wie sich die Prozesse in der Laptewsee auf das Eisvolumen in der Arktis insgesamt auswirken. Denn das Volumen, das von der Eisdicke und der Eisfläche abhängt, nimmt ja bereits heute ab“, sagt Thomas Krumpen. Die Messungen und Modellrechnungen der AWI-Forscher zeigen, dass sich die aus der Laptewsee exportierte Eismenge offenbar erhöht, weil das junge, dünne Eis schnell fortreibt.

Um ihr Modell abzusichern, wollen die AWI-Wissenschaftler weitere Daten sammeln. Zu diesem Zweck haben Thomas Krumpen und Stefan Hendricks im Jahr 2013 an zwei Stellen in der Laptewsee Bojen am Meeresboden verankert, die mit einem Upward-looking-Sonar (ULS) ausgestattet sind. Dabei handelt es sich um einen Sender, der akustische Signale zur Wasseroberfläche schickt. Bildet sich dort Eis, das ins Wasser hineinragt, verkürzt sich die Laufstrecke des akustischen Signals. So lässt sich die Eisdicke ermitteln. Anders als bei einem Messflug mit dem EM-Bird können die Forscher auf diese Weise also an einem Ort über Wochen und Monate hinweg Daten sammeln.

Einmal um die halbe Welt: Meereisdickenmessung in der Arktis

Wer die Sommerausdehnung des arktischen Meereises möglichst genau vorhersagen möchte, muss wissen, wie dick das Eis zum Ende des langen Winters ist. Aus diesem Grund vermessen die AWI-Meereisphysiker in jedem Frühjahr große Teile der arktischen Meereisdecke. In der Regel führt sie ihre Flugroute dabei von Spitzbergen aus Richtung Westen über Grönland und Kanada bis nach Alaska. Diese Galerie zeigt ein paar Momentaufnahmen dieser Messflüge (NETCARE-Kampagne) aus dem Frühjahr 2015. 

Messflüge von Spitzbergen bis Kanada

Wie in der Laptewsee nimmt auch in der Framstraße der Export an Eisfläche zu. Darauf deuten Satellitendaten hin, mit denen sich die Drift und Konzentration des Eises bestimmen lässt. Die AWI-Forscher sehen allerdings auch, dass die Dicke des Meereises in der Framstraße deutlich abgenommen hat. Die entsprechenden Daten erfassen Thomas Krumpen und Stefan Hendricks zusammen mit US-amerikanischen, kanadischen und norwegischen Forschern bei Messflügen im Projekt PAMARCMIP (Polar Airborne Measurements and Arctic Regional Climate Model Simulation Project). Für diese Forschungskampagne fliegen die Wissenschaftler alljährlich im Frühjahr die Strecke von Spitzbergen über die Framstraße nach Grönland und weiter bis an die Westküste Kanadas ab und vermessen die Eisdicke auf Hunderten Kilometern. "Inwieweit der gestiegene Flächenexport in der Framstraße durch eine Abnahme der Eisdicke kompensiert wird, können wir aber noch nicht sagen", sagt Thomas Krumpen.

Offen ist zudem, wie sich die veränderte Eisbilanz - der höhere Export aus der Laptewsee und der Framstraße - in Zukunft auf die gesamte Arktis auswirken wird. Thomas Krumpen: "Der Trend der Eisabnahme im Sommer ist eindeutig - aber ob oder in wie vielen Jahren die Arktis im Sommer komplett eisfrei sein wird, das können wir erst sagen, wenn wir das Meereis noch besser verstanden haben."