Eis ist ein wirklich heißes Material

AWI-Glaziologin Ilka Weikusat über ihre Vorfreude auf die erste Bohrung durch einen schnell fließenden grönländischen Eisstrom und das Ziel, dabei grundlegendes Wissen über die Physik des Eises zu generieren

Der Countdown dieses Sommers beginnt für AWI-Glaziologin Ilka Weikusat schon Ende April. Zu dieser Zeit werden im Nordosten Grönlands die ersten Flugzeuge auf dem Plateau des nordost-grönländischen Eisstroms (NEGIS) landen und ein internationales Wissenschaftlerteam eine Eiskernbohrung starten, die es so noch nirgends auf der Welt gegeben hat. „Wir wollen im Projekt EastGRIP zum ersten Mal durch einen schnell fließenden Eisstrom bohren. Im vergangenen Sommer wurde alles für das Bohrcamp vorbereitet und bereits durch den Firn bis in eine Tiefe von 100 Metern gebohrt. In diesem Sommer beginnen wir mit der eigentlichen Tiefbohrung“, sagt Ilka Weikusat (mittleres Bild).

In ihrer Stimme klingt dabei jede Menge Vorfreude auf die Feldarbeit mit. Wissenschaftlich betrachtet stellt die EastGRIP-Bohrung nämlich so etwas wie das fehlende Puzzleteil in Ilka Weikusats Forschung da: „In meiner Helmholtz-Nachwuchsgruppe untersuchen wir die physikalischen Eigenschaften des Eises, um mithilfe unserer Ergebnisse Gesetzmäßigkeiten zum Fließverhalten des Eises abzuleiten und diese genauer zu modellieren. Alle Eiskerne, mit denen wir bisher arbeiten konnten, stammen jedoch aus Bohrungen, in denen es hauptsächlich darum ging, Klimadaten der Vergangenheit zu gewinnen. Das heißt, sie wurden an Orten durchgeführt, an denen sich das Eis nur sehr wenig und langsam bewegte. In diesem Sommer wird endlich das Gegenteil der Fall sein. Wir werden Probenmaterial aus einer dynamischen Region eines Eisschildes bekommen“, erklärt Ilka Weikusat. 

Der mächtigste Einstrom Grönlands

Der nordost-grönländische Eisstrom NEGIS ist der mächtigste Eisstrom Grönlands. Sein Einzugsgebiet umfasst 15 Prozent der Fläche des grönländischen Inlandeises und verbindet dieses mit dem Atlantischen Ozean. Eis, das vom NEGIS mitgerissen wird, bewegt sich an manchen Stellen mit einer Geschwindigkeit von bis zu 500 Metern pro Jahr. Dennoch kann keines der existierenden Eisschildmodelle erklären, warum es diesen Eisstrom überhaupt gibt. Modelle können ihn nur dann reproduzieren, wenn man beobachtete Oberflächengeschwindigkeiten verwendet, um die basalen Bedingungen im Modell anzupassen. „Radaraufnahmen deuten darauf hin, dass etwa 500 Kilometer von der Küste stromaufwärts direkt unter der grönländischen Eisscheide die untersten Eisschichten fehlen und sich die darüberliegenden Schichten nach unten verbiegen. Ein vulkanischer Hotspot unter dem Eisschild wäre eine mögliche Erklärung dafür. So ließe sich auch begründen,  warum sich ausgerechnet hier der Ansatz des NEGIS bildet. Die momentan beliebteste Idee ist also, dass das Eis an dieser Stelle von unten schmilzt und deshalb dort ins Rutschen gerät und damit das lokal schnellere Fließen der gesamten Eisdecke erzwingt. Wirklich belegen können wir das aber noch nicht“, erklärt Ilka Weikusat.

Für das EastGRIP-Bohrcamp haben sich die Wissenschaftler aus Dänemark, Deutschland, den USA und neun weiteren Nationen eine ebene und gut zugängliche Stelle etwa 400 Kilometer von der Küste stromaufwärts ausgesucht. Hier bewegt sich der 2500 Meter dicke Eispanzer mit einer Geschwindigkeit von 65 Metern pro Jahr. „Inwieweit wir diese Verschiebung beim Bohren spüren werden, ist eine der spannenden Fragen, die wir erst im Feld beantworten werden können“, sagt Ilka Weikusat.

Bisher gehen die Wissenschaftler davon aus, dass sich die Fließbewegung bis zur Bohrtiefe von mindestens 1000 Metern gleichmäßig über die Eissäule erstrecken wird. Das hieße, Camp und Bohrloch werden so gleichmäßig mit dem Eis mitwandern, dass sich die senkrechte Bohrung so gut wie kaum verbiegt. „Im unteren Teil der Eissäule wird die Verformung stärker ausfallen. Wie stark, hängt davon ab, wieviel der gesamten Bewegung Richtung Ozean tatsächlich vom basalen Rutschen beziehungsweise von der Verformung des Eispanzers ausgeführt wird. Dazu gibt es Schätzungen aus Modellen, aber wir wissen es schlicht nicht und sind deshalb sehr gespannt darauf, wie dieses Bohrexperiment verlaufen wird“, so die Glaziologin.

Die Bohrung selbst wird von dänischen Wissenschaftlern geleitet – unterstützt durch vier Spezialisten aus dem AWI-Eiskernbohrerteam. Ilka Weikusat und Kollegen werden derweil in einem Labor unter der Schneeoberfläche die frisch gezogenen Eiskerne untersuchen. „Zeit spielt diesmal eine entscheidende Rolle, denn auch wenn es mir immer keiner glaubt: Im Vergleich zu Steinen oder anderen Materialien, deren Eigenschaften unser Leben bestimmen, ist Eis ein wirklich heißes Material. Es befindet sich immer kurz vor seinem Schmelzpunkt und ist damit so warm, dass es schnell rekristallisiert und sich seine Kristalle sehr leicht verändern. Aus diesem Grund müssen wir die physikalischen Eigenschaften des Eises auch gleich vor Ort messen und können es nicht erst lange herumliegen lassen“, erläutert die Wissenschaftlerin.

Im Feldlabor werden auch die Mikroskope aus dem AWI-Eislabor aufgebaut. Mit ihnen wollen Ilka Weikusat und ihr Team die Mikrostruktur des Eises untersuchen. „Wenn Eis fließt, verformt es sich. Die Verformung wiederum hinterlässt Spuren in der Mikrostruktur. So wandern zum Beispiel die Korngrenzen, drehen sich die Kristallachsen oder wir finden Spurenstoffreste, die das Eis in der Regel weicher und damit schneller machen. Alle diese Informationen werten wir in meiner Nachwuchsgruppe aus, um die grundlegenden Mechanismen und Prozesse der Fließbewegung zu verstehen. Bei dieser Bohrung werden wir zum ersten Mal sich schnell bewegendes Eis aus großer Tiefe in die Hand bekommen und hoffentlich wertvolle Echtdaten generieren, die wir dann mit unserem Mikrostruktur-Modell vergleichen, das in Kooperation mit der Uni Tübingen entstanden ist. Wir können es deshalb kaum abwarten, endlich loszulegen“, sagt Ilka Weikusat.

Läuft alles nach Plan, werden die AWI-Eisdynamiker helfen, eine wichtige Lücke in der Eisschild-Modellierung zu schließen. Bisher verwenden die Modelle nämlich ein Fließgesetz aus den 1960er Jahren, dessen Anwendung oft sehr kreativ vollzogen und prinzipiell diskutiert wird. Ilka Weikusat: „Wir wollen die Fließprozesse bis auf die mikroskopische Ebene verstehen, um sie besser mit physikalischen Formeln beschreiben zu können. Denn: Mit einer treffenderen Beschreibung werden wir am Ende das Fließverhalten der Eisströme auch besser modellieren und somit hoffentlich den Meeresspiegelanstieg genauer vorhersagen können. Aber das ist noch ein sehr weiter Weg.“ 

Text: Sina Löschke