Das grönländische Eis-Fließband

Der Grönland-Eisschild verliert einen Großteil seines Eises über Eisströme in den Arktischen Ozean. Ein internationales Forscherteam mit Beteiligung des Alfred-Wegener-Instituts will diesen Eisfluss und Massenverlust besser verstehen, um den zukünftigen Meeresspiegelanstieg besser voraussagen zu können. Im Nordosten Grönlands bohren sie deshalb erstmals durch einen Eisstrom – und haben dafür ein Eiscamp mit Methoden gebaut, die es so noch nie zuvor gegeben hat.

Grönland wird von einem Eispanzer bedeckt, der etwa fünfmal so groß ist wie Deutschland und bis zu drei Kilometer dick. Doch diese Eismassen liegen nicht still. Sie sind nahezu überall stetig in Bewegung. Mehrere Eisströme befördern wie auf einem Fließband Eis aus dem Inneren des Landes zum Arktischen Ozean. Ihre Fließgeschwindigkeit ist vielfach höher als die des restlichen Eisschildes und so fließt ein Großteil der Eismasse, den Eisschilde verlieren, über diese Eisströme ab.

„Die Hälfte des Massenverlustes des Grönland-Eisschildes geht über die Eisströme in den Arktischen Ozean verloren. Und viele dieser Eisströme haben ihre Geschwindigkeit in den vergangenen Jahren verdoppelt“, sagt AWI-Glaziologe Dr. Sepp Kipfstuhl. „Diesen Fluss müssen wir richtig verstehen, um ihn vollständig in Klimamodelle einbeziehen zu können. Mit diesen Modellen wollen wir den Massenverlust in der Zukunft und den damit zusammenhängenden Anstieg des Meeresspiegels voraussagen. Doch bislang wissen wir über die Eisströme des Grönland-Eisschildes nur sehr wenig.“

Um neue Erkenntnisse zu gewinnen, haben Forscher des Alfred-Wegener-Instituts zusammen mit internationalen Partnern im Jahr 2015 das Projekt EGRIP gestartet. EGRIP steht für East Greenland Ice-core Project, bei dem die Forscher einen Bohrkern aus dem Nordöstlichen Grönland-Eisstrom bohren. Es wird die weltweit erste Bohrung durch einen Eisstrom sein.

Bislang ging es den Forschern darum, möglichst altes Eis zu finden. Dafür brauchten sie vor allem klare Strukturen. Deshalb haben sie stets von einem der höchsten Punkte eines Eisschildes aus in die Tiefe gebohrt. Denn von dieser Erhebung aus fließt das Eis zu allen Seiten abwärts, während es unmittelbar am Punkt der Bohrung wenig Seitwärts-Bewegung gibt. So erhalten die Forscher eine  gerade Schichtung im Längsschnitt des Eiskerns mit besonders altem Eis am unteren Ende des Längsschnittes.

Nun bohren die Forscher erstmals mitten durch den Eisstrom, quasi am Hang. Zum ersten Mal können sie dann das Eis untersuchen, das sich sehr schnell seitlich Richtung Ozean bewegt. Es fließt dabei in den oberen Schichten schneller und in den unteren durch die Bodenreibung langsamer. Aber wie groß ist der Unterschied? Im Rahmen von EGRIP wird dies nun zum ersten Mal auf einem Eisstrom gemessen.

Neben der Frage, wie weit das schmelzende Gletschereis den Meeresspiegel ansteigen lassen wird, geht es den Wissenschaftlern bei Eiskernen immer auch darum, mehr über die Vergangenheit zu lernen.

Eiskerne sind ein Archiv für Klimainformationen über lange Zeiträume – bis zu mehreren hunderttausend Jahren. „Der Grönland-Eisschild besteht im Grunde aus vielen tausend einzelnen Schneefällen, die zeitlich geordnet übereinander geschichtet sind“, erklärt Sepp Kipfstuhl. „Für jede dieser Schichten können wir die Temperatur zum Zeitpunkt des Schneefalls ablesen. Diese Erkenntnisse gewinnen wir aus dem Massenverhältnis der eingeschlossenen Wassermoleküle. Zudem sind kleinste, in der Luft schwebende Teilchen im Eis archiviert, so genannte Aerosole, etwa Staubpartikel. Die Menge solcher Aerosole im Eis ist ein indirektes Maß für die ursprüngliche Konzentration in der Luft, die sich wiederum – abhängig von den Klimabedingungen – zeitlich verändert hat.“

Die Bohrung im Nordosten Grönlands gehen bis in eine Tiefe von 2550 Metern. Der Eiskern wird anschließend im Camp vor Ort und in mehreren Laboren weltweit untersucht, auch im Eislabor des Alfred-Wegener-Instituts.

Doch bis dahin ist es ein langer Weg. Denn derartige Eisbohrcamps erfordern einen großen Materialeinsatz und eine umfangreiche logistische Planung. Die Expeditionsteilnehmer mussten mehrere hundert Tonnen Material mit Transportflugzeugen zum Camp transportieren. Vor Ort bauten sie unter anderem eine Zeltstadt zum Schlafen auf, Holziglus, in denen sie zusammenkommen, arbeiten und essen, sowie den sogenannten Science Trench. Diesen mussten sie wie einen riesigen Graben ins Eis fräsen und aufwändig gegen Einstürze sichern, um darin die Eiskerne bei stabilen Temperaturen unter minus 20 Grad vermessen und für weitere Analysen zersägen zu können. Von diesem „untereisischen Labortrakt“ gehen wiederum einzelne Messräume ab.

Der Aufbau des EGRIP-Camps begann im Jahr 2015. In der darauffolgenden Sommersaison wurde es schließlich vollständig ausgestattet. Im Jahr 2017 begannen schließlich die Bohrarbeiten. „Die erste große Herausforderung besteht also zunächst immer darin, all die benötigten Geräte an den gewünschten Ort zu transportieren und dort das Camp aufzubauen. Dieses muss vor Sturm und Kälte auf dem Eis geschützt werden“, erklärt Sepp Kipfstuhl.

Dabei arbeiten die Expeditionsteilnehmer nicht nur daran, ihre Forschungsarbeiten zu präzisieren. Die EGRIP-Beteiligten haben erfolgreich eine völlig neue Methode umgesetzt, um den Ressourceneinsatz und damit auch den logistischen Aufwand deutlich zu reduzieren. Mit einer innovativen Idee konnte das Forschungslabor mehrere Meter unter Tage deutlich effizienter aufgebaut werden.

Zum ersten Mal wurde der Science Trench allein aus Schnee gebaut: Mit einer Schneefräse wurden bis zu 50 Meter lange Schächte ausgefräst. In diesen Schächten wurden anschließend riesige Ballone mit einem Durchmesser bis zu fünf Meter aufgeblasen. Danach wurde der zuvor ausgeworfene Schnee wieder auf die Ballone geblasen, um das Dach zu bilden. Nachdem der Schnee fest genug war, konnte abschließend die Luft aus den Ballonen gelassen werden. „Ohne ein einziges Stück Holz zu benötigen, haben wir auf diese Weise Tonnengewölbe in den Schnee gebaut“, sagt Sepp Kipfstuhl. Bis zum Jahr 2020 werden in diesen Gewölben die Eiskerne gebohrt und verarbeitet.

Der innovative Bau des Bohrcamps in Bildern

Fotos: Sepp Kipfstuhl; Schnitt: Nadine Michel