Archiv der Pressemeldungen und Kurzmeldungen

PS94 Wochenbericht Nr. 6 | 21. bis 27. September 2015

Eisschollen als Bojen

[27. September 2015] 

Unsere letzte Eisstation begann am 22. 9. Hier mussten wir inzwischen auch noch die Begrenzung des Tageslichts als zusätzliche Einschränkung berücksichtigen, denn die Sonne hat bei 85°N wieder einen Tagesgang und Ende September steht die Sonne zwar lange, aber nur ein paar Grad über dem Horizont.

Dazu müssen wir den Unterschied zwischen Bordzeit (MEZ + 3 Stunden) und der Tageszeit bei 140° Ost in unsere Kalkulation einbeziehen. 140° Ost ist auch der geographische Längengrad von Tokio. Die vorige Eisstation war auf 116° Ost, das ist der Meridian von Peking. Für uns betrug die Distanz zwischen den Meridianen der beiden Eisstationen nur 230 km. Dennoch brauchten wir zwei volle Tage für diese Strecke, weil wir im Durchschnitt nur mit 5 Stundenkilometern vorankamen – denn nach wie vor ging es durch dichtes, dick mit Schnee bedecktes Eis.

Also stoppten wir zeitig morgens auf, sowie eine taugliche Scholle vor dem Schiff auftauchte. Letzte Woche haben wir beschrieben, wie wir einige Aspekte der Eisbeschaffenheit untersuchen. Heute wollen wir schildern, wie wir Eisschollen als Geräteträger für autonome Messsysteme nutzen.

Jede Eisscholle hat gewissermaßen ihren Lebenszyklus. Im Winter friert in den offenen Wasserrinnen überall in der Arktis Oberflächenwasser zu Neueis, das konnten wir während unserer gesamten Fahrt sogar im Sommer beobachten, und besonders viel Neueis wird in den weiten Schelfmeeren gebildet, die seit dem letzten Jahrzehnt im Sommer weitgehend eisfrei sind. So fließt von den sibirischen Schelfen her ein gewaltiger Eisstrom quer durch die Arktis in Richtung Atlantik – die so genannte Transpolare Drift. Das ist aber keine geschlossene Platte, denn der Wind in den großen Tief- und Hochdrucksystemen bewegt das Eis aufeinander zu, so dass Presseisrücken entstehen, oder er verursacht Scherungen, sodass das Eis auseinander bricht. So setzt sich die arktische Eisdecke aus einer Vielzahl von unterschiedlich großen Schollen zusammen. Im Sommer schmilzt etwas von der Scholle weg, im nächsten Winter friert wieder neues Eis von unten und an den Seiten an. Was Netto stärker ist, hängt von Ort und Jahr ab. Irgendwann, nach einem, zwei, oder bis zu zehn Jahren kommt die Scholle soweit nach Süden, dass sie schmilzt – oder sie wird von ihren Nachbarn zerdrückt.

Die Schollen, die also ständig dicker und dünner werden, während sie sich kreuz und quer durch die Arktis bewegen, nutzen wir als Plattform, um Messungen von allen möglichen Parametern zu erhalten. Wir bezeichnen – etwas unpräzise - die Messgeräte selber als Bojen; aber die eigentliche Boje (das Wort weist auf das englische „buoyant“ d.h. auf dem „Wasser schwimmend“ hin) ist das Eis, auf oder in dem wir die Geräte verankern.

Diese Geräte messen eine Vielzahl von Größen in der Atmosphäre, im Eis selber und im Wasser unter dem Eis. Die allereinfachsten haben nur einen Sensor für den Luftdruck – eine Größe, die wichtig für jede Wetteranalyse und –vorhersage in der Arktis ist. Etwas aufwändigere Wetter“bojen“ messen dazu noch die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit und den Wind. Andere Systeme geben Auskunft über das Wachstum und Schrumpfen der Eisdicke, indem ein 5 m langes Kabel, eng bestückt mit Thermometern, die Temperatur von der Luft durch den Schnee, durch das Eis bis ins Wasser messen. Durch die Temperaturverteilung kann man auch die Dicke von Schnee und Eis messen während der ein, zwei, vielleicht drei Jahre, in denen die Scholle treibt und die Batterien des Messsystems noch genügend Spannung haben.

Der Schneezuwachs oder sein Tauen wird noch genauer von einem Gerüst aus gemessen, das an vier Armen Ultraschalltransmitter und –sensoren hat, die ähnlich wie ein Echolot den Abstand zur Schneeoberfläche messen.

Zwei verschiedene Bojentypen sind eigens dazu konzipiert, die Eigenschaften des Ozeanwassers zu messen. Wir haben sie bereits im 3. Wochenbericht skizziert: Sie tragen im Wasser ein 800 m langes Kabel, an denen eine Sonde einmal pro Tag auf und ab profiliert und Temperatur und Salzgehalt sowie den Sauerstoffgehalt messen, so wie wir es mit den zahlreichen CTD-Systemen auch vom Schiff aus tun. Dazu kommen bei einer der Bojen biooptische Sensoren. Damit wird zum einen der - wenn auch geringe - Anteil der Strahlung unter dem Eis gemessen, der für Photosynthese genutzt werden kann, und zum anderen ein großes Spektrum der Fluoreszenz, mit der sowohl der Chlorophyllgehalt erfass wird, als auch der Gehalt an Huminstoffen, die mit dem Flusswasser ins Meer geschwemmt werden.

Eine französische Variante dieser Messsysteme misst zusätzlich die Konzentration der Aerosole in der Atmosphäre und die optische Tiefe durch die Wolkenbedeckung, Parameter über die es speziell in der zentralen Arktis sonst keine Informationen gibt. Nun wird es sie an vier Stellen das ganze Jahr über geben. Alle diese Messsysteme haben wir während unserer Fahrt weiträumig in der Arktis verteilt.

Alle eisgebundenen Messsysteme haben gemeinsam, dass sie per GPS ihre Position bestimmen und damit neben dem Ort der Messungen etwas über die Drift ihrer Wirtseisscholle aussagen. Und zum zweiten haben wir durch die Satellitenkommunikation alle Messwerte sofort auf dem Tisch.

Nach der letzten Eisstation setzten wir unseren Schnitt nach Osten fort, wir konnten nun auch an unseren Wassermesswerten erkennen, dass wir im Bereich der transpolaren Drift waren, mit der neben dem Eis auch Wasser aus den Flüssen Sibiriens in einem breiten Strom in Richtung Atlantik fließen. Draußen wurde es derweil immer unwirtlicher: Am Donnerstagabend erreichten wir mit minus 21 Grad den neuen Kälterekord auf diese Sommerfahrt durch die Arktis.

Leider mussten wir am Donnerstag unsere Forschung in der sibirischen Arktis unterbrechen. Wir haben einen medizinischen Notfall, der zur stationären Behandlung ins norwegische Kirkenes gebracht werden muss. Trotz der Sorge um unseren Patienten sind wir aber sehr froh über die exzellente Betreuung durch unseren Bordarzt und seine Assistentin, und über die hervorragende medizinische Ausstattung an Bord, die auch ein kleines Hospital mit Telemedizin beinhaltet.

Herzliche Grüße von Bord,

Ursula Schauer

Mit Hilfe von Mario Hoppmann

Kontakt

Wissenschaftliche Koordination

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Assistenz

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