Die Geschichte eines Eisberg-Giganten

Interview

"Die neue Kalbungsfront könnte instabil sein"

Die beiden AWI-Glaziologinnen Daniela Jansen und Angelika Humbert über den neu entstandenen Eisberg und die möglichen Folgen

Der neu entstandene Eisberg ist einer der größten Eisberge, die jemals beobachtet wurden. Das ist natürlich ein spannendes Naturereignis. Aber ist die Größe des Eisberges überhaupt relevant?

Angelika Humbert: Relevant ist die Größe einmal für den Süßwassereintrag in den Ozean. Der Eisberg treibt ja eventuell als komplette Platte weiter und kann an einer Stelle weit entfernt von der Kalbungsstelle in viele kleine Eisberge zerbrechen. Diese schmelzen dann schneller als ein großer Eisblock und tragen in kurzer Zeit viel Süßwasser in den Ozean. Sollte der Eisberg nicht zerbrechen, wird er langsam weitertreiben. Wahrscheinlich ist, dass er dabei hier und da auf Grund läuft und auch mal für längere Zeit an einer Stelle festhängt. Das passiert bei kleineren Eisbergen eher nicht: Sie driften leichter durch die Eisbergallee, wie der Küstenstrom an der Ostseite der Antarktischen Halbinsel auch genannt wird.

Die Größe eines Eisberges spielt aber auch eine Rolle, wenn es um eine mögliche Kollision des Eisbergs mit der Kalbungsfront geht. Aufgrund seiner enormen Masse – wir sprechen hier von mehr als 1.000 Gigatonnen - wäre eine Kollision ein enormer Stoß, der bereits bestehende Risse im Schelfeis weiterreißen lassen könnte. Ob dies passiert, hängt wesentlich von der Strömung und den Windfeldern ab, welche die Drift des Eisbergs antreiben.

Als die Nachricht vom Abbruch Schlagzeilen machte, fragten sich viele Menschen auf der Welt, ob dieses Ereignis eine Folge des Klimawandels ist. Spielte die Erderwärmung hier eine Rolle?

Daniela Jansen: Es gibt derzeit noch keine Hinweise darauf, dass der Abbruch dieses Eisberges mit einer Erwärmung in der Region zusammenhängt. Der bereits geschehene komplette Zerfall der Schelfeise an der Antarktischen Halbinsel, der von Norden nach Süden voranschreitet, hat dagegen durchaus etwas mit der lokalen Erwärmung zu tun. Bei der Antarktischen Halbinsel stiegen die Temperaturen zwischen 1951 und 2000 um 2,8 Grad, seitdem stagnieren sie.

Bei Larsen C ist die Frage, warum ein Eisberg "zu früh" abbricht ­– sprich, warum die Kalbungsfront weiter zurückgeht als sonst? Eine mögliche Erklärung dafür wäre die Entwicklung der Meereisbedingungen vor der Eisfront: Schon seit den 1970er Jahren zieht sich das mehrjährige dicke Meereis zurück, welches einen stabilisierenden Einfluss auf die großen Risse im Schelfeis haben könnte. Die Meereisbedingungen wiederum hängen mit dem lokalen und dem regionalen Klima zusammen. Diese Zusammenhänge aber müssen noch genauer untersucht und verstanden werden.

Angelika Humbert: Letztendlich muss man bedenken, dass Schelfeise immer zwischen den beiden Klimakomponenten Ozean und Atmosphäre liegen. Sie sind sozusagen die mittlere Schicht eines Sandwichs und können den Auswirkungen des Klimas niemals entkommen. Die Dynamik und Veränderung eines Schelfeises sind immer eine Kombination aus einer internen Variabilität des Eisfeldes, die es aufgrund seiner Mechanik hat, und dem Klimaantrieb.

Das Kalben von Tafeleisbergen ist an sich ein natürlicher Prozess. Das Anwachsen des Risses am Larsen C haben Sie über mehrere Jahre beobachtet. Was war dieses Mal besonders? Und welche Schlüsse ziehen Sie aus dem Verlauf der vergangenen Monate?

Daniela Jansen: Die episodische Ausbreitung des Risses hat in diesem Fall mit den Eigenschaften des Eises zu tun. Wir konnten beobachten, dass die Spitze immer dann festhängt, wenn sie sich in der Übergangszone  zwischen Eismassen befand, die aus benachbarten Buchten stammten. Dieses Kalbungsergeignis wurde sehr genau mit Satellitendaten dokumentiert. Aus unseren vielen Beobachtungen können wir lernen, wie sich Risse im Eis ausbreiten, ob das Eis an unterschiedlichen Stellen eine andere Bruchfestigkeit aufweist und auch, inwiefern das Voranschreiten des Risses von äußeren Einflüssen wie zum Beispiel Wind oder Meereisbedingungen abhängt. Ungewöhnlich ist in diesem Fall, dass die Schelfeiskante so weit zurückgeht. Bei bisher beobachteten Kalbungsereignissen am Larsen C Schelfeis hatte sich die Kante vor einer Kalbung viel weiter ins Meer vorgeschoben.

Droht dem Larsen C-Schelfeis nach dem Abbruch des gigantischen Eisberges nun der komplette Zerfall?

Daniela Jansen: Modellrechnungen haben ergeben, dass die neue Kalbungsfront instabil sein könnte. Das bedeutet, dass in Zukunft viele kleinere Eisberge kalben und sich die Schelfeiskante infolge dessen in vielen kleinen Schritten zurückziehen könnte. Das würde zu dem Ablauf passen, der auch bei den nördlichen Nachbarn des Larsen C Schelfeises beobachtet wurde: Zuerst das Kalben eines Tafeleisbergs, der die Kalbungsfront ungewöhnlich weit zurückbringt, dann über längere Zeit ein Rückzug, der schließlich auch die Gletscher beeinflusst, die in das Schelfeis münden. Ob es soweit kommt, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.

Angelika Humbert: Bei anderen Schelfeisen haben wir in der Vergangenheit sehen können, dass Aufbruchereignisse im Gegensatz zum Kalben immer sehr schnell stattgefunden haben. Innerhalb von Stunden bis Tagen hatten sich riesige Rissfelder und eine große Anzahl kleiner Eisberge gebildet. Unsere Kooperationspartner und wir werden Larsen C deshalb im Auge behalten und mithilfe von Satellitenaufnahmen kontrollieren, ob sich in der nächsten Zeit neue Risse bilden. Am Wilkins Schelfeis, das in den Jahren 2008 und 2009 ein Aufbruchereignis erlebt hat, hat sich im Laufe eines halben Jahres die Spannung im Eis derart umgebaut, dass die neue Eisfront bis heute stabil geblieben ist. Dort war damals aber auch kein Eisberg in dieser Größendimension abgebrochen. Dieses Beispiel zeigt aber, es muss nicht unbedingt zum kompletten Zerfall kommen.

Sollte es doch zum Zerfall kommen: Welche Konsequenzen hätte er für den Meeresspiegel?

Daniela Jansen: Relevant für den Meeresspiegel wird es erst, wenn auch die Gletscher beeinflusst werden, die in das Schelfeis münden. Dennoch wäre der Beitrag zum Meerespiegelanstieg verhältnismäßig gering, da diese Gletscher nur das Plateau der Antarktischen Halbinsel als Einzugsgebiet haben. Für uns Wissenschaftler sind die Vorgänge am Larsen C dennoch ausgesprochen interessant, weil sie uns die Möglichkeit bieten, die beitragenden Prozesse besser zu verstehen. Dieses neue Wissen können wir in unsere längerfristigen Modellsimulationen einlaufen lassen, mit denen wir auch die größeren Schelfeise der Antarktis betrachten. Und je genauer unsere Modelle sind, desto besser können wir die Zukunft der antarktischen Eismassen vorhersagen.