PS115/2 Wochenbericht Nr. 4 | 24.09. – 30.09.18

Ein Mosaik aus Ruhe, Sturm, Meereis und Kastenlot

[01. Oktober 2018] 

Montag (24.09.18). Die neue Woche beginnt wie die letzte. Es wird wieder „gewummert“. Für die nächsten 3-4 Tage wird alle 15 Sekunden das uns mittlerweile vertraute Signal Tag und Nacht begleiten (und die aufmerksamen Leser des letzten Wochenberichts wissen auch nach Estellas schönen Erläuterungen, was dahintersteckt und dass es tatsächlich Leute gibt, die dies für Musik halten).

Dienstag (25.09.18). Bergfest – 20 Tage haben wir hinter uns, 20 Tage liegen noch vor uns! Die Zeit ist doch sehr schnell vergangen (oder nicht?). Zur Feier des Tages werden wir – auf jeden Fall die Frühaufsteher um 06:00 – von einem herrlichen Sonnenaufgang beglückt (der heutige Sonnenuntergang wird übrigens genauso perfekt sein!), dazu spiegelglatte See, kein Eis, viele Vögel drehen ihre Runden um die „Polarstern“.

Schon wieder kommen bei dem einen oder anderen Zweifel auf - sind wir überhaupt noch in der Arktis? Da ich mir sicher bin, dass wir uns auf unsere Nautiker verlassen können, bin ich mir auch sicher, dass wir in der Arktis sind – damit ist aber auch sicher, dass die diesjährige Ausdehnung des Arktischen Meereises in unserem Untersuchungsgebiet wohl wieder ein Minimum erreicht haben muss, eine Beobachtung, über die aber auch für andere Teile der Arktis schon in der Presse jüngst berichtet worden ist. Während in der zentralen Arktis noch dichte Packeisbedingungen vorherrschen (der schwedische Eisbrecher „Oden“ kann ein Lied davon singen, als er sich vor ein paar Wochen nur mit größter Anstrengung bis hin zum Nordpol durchboxen konnte), sind die Randmeere mit angrenzendem Kontinentalrand mehr oder weniger eisfrei (Abb. 1).

Kommen wir aber kurz zurück zur Idylle des herrlichen Sonnenaufgangs, der ruhigen glatten See, etc. - täuscht diese Ruhe und Idylle vielleicht (bei dieser Betrachtung lassen wir natürlich mal kurz die „Musik der Geophysiker“ außen vor)? Könnte es nicht auch die Ruhe vor dem Sturm sein? Das ist tatsächlich nicht so abwegig, wie uns der Wetter-Max in seinem alltäglichen, morgendlichen, Wetterbericht aufklärt. Für Mittwoch/Donnerstag (26./27.09.18) kündigt sich laut Wetterdaten und Modellvorhersagen ein Sturmtief an!! Wer weiß, was da auf uns zukommt!!

Zwei Tage später (Donnerstag 27.09., 08:15) kommt die Wahrheit auf den Tisch – mit seiner Wettervorhersage vom Dienstag liegt der Wetter-Max gar nicht so verkehrt – Windstärken von 8-9 mit Wellenhöhen von 3-4 Metern sind heute im Laufe des Tages und der kommenden Nacht nicht unwahrscheinlich! Nach einem weiteren „Wetter-Update“ gegen 14:00 entscheiden sich die Geophysiker, um 15:45 die Seismik abzubrechen. Zu groß ist die Gefahr, den 3000m-Streamer zu beschädigen. In knapp 4 Stunden ist die Seismik eingeholt, und wir nehmen wieder Fahrt auf, Richtung Norden und auf eine neue Geologie-Station zu – das ist zumindest der Plan!

Freitag 28.09., 06:00 morgens – erste kleine Eisschollen, nicht mehr. Wir erreichen die Position der Geo-Station, wollen die Geräte ausbringen. Mittlerweile hat sich langsam aber sicher eine sehr hohe Dünung aufgebaut, der Dampfer geht langsam aber deutlich hoch und runter, auf dem Achterdeck kann die Handhabung der schweren Großgeräte und das Arbeiten mit dem Kran langsam gefährlich werden. Nach kurzer „Ortsbesichtigung“ durch Kapitän, 1WO und Fahrtleiter wird die Station abgebrochen, um auf der sicheren Seite zu bleiben. Wir entscheiden uns, weiter nach Osten ins Eis zu fahren (Abb. 2) und erst Station zu machen, wenn Eis und Dünung dies gefahrlos zulassen.

Vier Stunden später, gegen 10:00, stoppen wir auf. Eis und Dünung sind ok für eine Geo-Station. Großkastengreifer, Multicorer und das geliebte (da gibt es sicherlich unterschiedliche Meinungen zu – insbesondere, wenn zu viele davon gefahren werden) Kastenlot stehen auf dem Programm. Da auch die Wetter- und Sichtverhältnisse gut genug sind, finden parallel zu den Geo-Stationsarbeiten zwei Helikopterflüge statt, auf denen Eisbeobachtungen und das Aussetzen von einer Driftboje auf dem Programm stehen.

Eisbeobachtungen und Driftbojen sind zwei Schlagworte, die einen Beitrag unserer Eisgruppe an dieser Stelle für sinnvoll erscheinen lassen. Was machen diese „Eisleute“ hier eigentlich an Bord? Deshalb übergebe ich das Wort an unsere Meereisgruppe, die uns einmal kurz erläutern wird, was deren Interesse auf unserer Expedition ist:

Unser Meereisteam an Bord arbeitet an drei unterschiedlichen Fragestellungen. Niels Fuchs, Gerit Birnbaum (beide AWI Bremerhaven) und Marcel König (Uni Kiel) untersuchen Schmelztümpel, die derzeit schon wieder zufrieren. Diese befinden sich auf nunmehr zweijährigen Eisschollen, die die letzte Sommersaison überdauert haben. Das neu gebildete Eis auf den Tümpeln ist momentan noch deutlich dunkler als die restliche Schollenoberfläche. Somit verringern die Schmelztümpel auch im Stadium ihres Zufrierens die Meereisalbedo immer noch deutlich, d.h. das Vermögen des Eises Sonnenlicht zu reflektieren. Das Projekt trägt dazu bei, die Genauigkeit der Bestimmung des Flächenbedeckungsgrades und der Albedo von Schmelztümpeln aus Fernerkundungsmessungen zu verbessern. Heike Zimmermann (AWI Potsdam) interessiert sich dagegen hauptsächlich für die Unterseite der zweijährigen Eisschollen und die darin lebenden Eisalgen. Sie entwickelt Methoden, um in jahrtausendealten Sedimenten nach Eisalgen-DNA zu suchen und mit etwas Glück Hinweise auf die Meereisausdehnung in der Vergangenheit zu finden. Gunnar Spreen (Uni Bremen) bringt Bojen in unserem Untersuchungsgebiet aus, um zum einen Messungen von Lufttemperatur und -druck zum „Year of Polar Prediction (YOPP)“ beizutragen und zum anderen in einem Netz von Bojen die Eisdrift und Eisdeformation in unserem Fahrtgebiet genauer zu analysieren.

Niels, Gerit und Marcel verbinden in ihrem Projekt Messungen vom bordeigenen Helikopter aus mit Bodenmessungen auf dem Eis. Idealerweise sollte ein zuvor mit Kameras vermessenes Areal mit Schmelztümpeln nach bestimmten Überflügen auch am Boden vermessen werden, um sogenannte „ground-truth“-Daten zu gewinnen und die Genauigkeit der Fernerkundungsdaten einschätzen zu können. Diese ideale Kombination ist jedoch bisher am Wetter und den Eisverhältnissen gescheitert. So haben Niels und Gerit bisher vier Messflüge durchgeführt, bei denen aus Aufnahmen einer RGB-Kamera und einer Hyperspektralkamera Charakteristika von wieder zufrierenden Schmelztümpeln (Flächenbedeckungsgrad, Albedo) in einem Umkreis bis zu ca. 90 km um die „Polarstern“ herum abgeleitet werden können. Auffallend ist, dass nahezu alle Tümpel im bisherigen Fahrtgebiet während des Sommers komplett durchgeschmolzen sind und vor wenigen Wochen vermutlich noch offene Wasserflächen gewesen sind. Jetzt sind sie nur aufgrund ihrer Form und Lage innerhalb der Schollen als ehemalige Tümpel zu erkennen und von sonstiger Neueisbildung zu unterscheiden. Ein Salzgehalt von 10 g/kg bestätigt die Annahme, dass es sich bei dem Tümpel bedeckenden Eis um neu gebildetes Meereis handelt.

Während der zweistündigen Eisstation am letzten Sonntag ist endlich auch Marcel auf seine Kosten gekommen und hat bodengebundene Messungen durchführen und einen zugefrorenen Schmelztümpel untersuchen können (Abb. 3). Dabei sind an verschiedenen Stellen spektrale Messungen der Eisoberfläche durchgeführt und die Dicke der Eisdecke bestimmt worden, die Werte von 5-7.5 cm erreicht hat. Die Qualität der spektralen Messungen ist dabei mit Hilfe einer Kombination von zwei Spektrometern, bei der die Veränderung der einfallenden Strahlung zur Korrektur der gemessenen Reflexion verwendet wird, deutlich verbessert worden. Aufnahmen, die unter dem Eis mit einer Unterwasserkamera gemacht worden sind, zeigen, dass der Schmelztümpel durchgeschmolzen gewesen ist, bevor er wieder zugefroren ist.

Das Meereis beherbergt weiterhin eine große Vielfalt von Mikroorganismen, wie beispielsweise einzellige Algen. Diese findet man in winzigen, mit hochkonzentriertem Salzwasser gefüllten Kanälen, besonders im unteren Bereich des Eises, der mit dem Meerwasser in Verbindung steht und dadurch Nährstoffe für die Algen verfügbar macht. Im Sommer dringt das Sonnenlicht durch das Eis und ermöglicht an dessen Unterkante eine Algenblüte, die man anhand einer gelblich-braunen Verfärbung im Eis mit bloßem Auge erkennen kann. Durch das Herausbohren von Eiskernen sind von Heike bisher leider erst auf einer Eisstation Proben dieser Algen gewonnen worden, die anhand von DNA-Metabarcoding (ein spezieller Abschnitt in der genetischen Erbinformation wird hierzu verwendet wie ein Barcode auf einem Produkt in einem Supermarkt) Rückschlüsse über die Artenzusammensetzung im Eis ermöglichen.

In der Arktis, und insbesondere in dem entlegenen Teil des Arktischen Ozeans, in dem wir uns gerade befinden, gibt es kaum Wetterdaten, wie Luftdruck und Temperatur. Numerische Modelle haben daher Probleme, das Wetter und Klima in der Arktis richtig vorherzusagen, was auch die Vorhersage-Qualität in südlicheren Breiten wie Europa negativ beeinflusst. Das YOPP hat sich zum Ziel gesetzt, das zu ändern. Von 2017 bis 2019 werden vermehrt Beobachtungen in den Polargebieten durchgeführt, die Modelle verbessern - auch wir sind ein kleiner Teil von diesem großen internationalen Projekt. Gunnar Spreen hat bisher sieben von neun der YOPP-Bojen ausgesetzt, die die Lufttemperatur, Luftdruck und Eisdrift messen. Die Bojen werden mehr als ein Jahr mit dem Eis driften und jede Stunde ihre Messungen per Satellit an die Beobachtungszentren übertragen. Unter http://meereisportal.de kann die Drift der Bojen verfolgt werden. Einige haben seit dem Aussetzen schon mehr als 100 km zurückgelegt. Die YOPP-Bojen sind relativ gleichmäßig entlang der Fahrtroute der „Polarstern“ und per Helikopter verteilt worden, um ein möglichst großes Gebiet abzudecken (Abb. 4, rote Vierecke).

In einem zweiten Bojenexperiment wird die Drift und Deformation des Eises in einem Netz von Bojen in einem kleineren Gebiet gemessen (Abb. 4, orange Quadrate). Diese Bojen sind vier Tage zuvor auf Eisschollen am Eisrand ausgebracht worden. Sie sind dann nach Osten gedriftet, und ihre Startpositionen liegen jetzt schon im offenen Wasser, wie in der Abbildung sehr schön zu erkennen ist. „Polarstern“ wird im nächsten Jahr im Oktober etwas nördlich von der Stelle, an der wir uns jetzt befinden, für ein Jahr im Meereis eingefroren und mit dem Eis driften. Im Rahmen dieses großen internationalen MOSAiC-Projekts werden auch autonome Messstationen im Umkreis von 40 km um die „Polarstern“ ausgebracht. Die von uns ausgebrachten acht Driftbojen erheben Daten über die Eisdrift und Deformation in diesem Jahr, um einen Vergleich und Vorgeschmack auf die zu erwartende Situation während der MOSAiC-Expedition nächstes Jahr zu erhalten.

Liebe Eisgruppe, vielen Dank für diese ausführlichen Informationen über Euer Programm. Jetzt aber kurz noch einmal zurück zum Tagesgeschehen, zurück zu unserer laufenden Station. Es ist immer noch Freitag (28.09.18), und das Kastenlot läuft gerade (das vorletzte!). Pünktlich zum Mittagessen ist der Kasten dann an Deck – 9 m!! Die ganze Pracht zeigt sich uns dann allerdings erst am Sonntagnachmittag, als der Kasten geöffnet vor uns liegt – 8.8 m sind gekernt worden, der längste Kern bisher auf dieser Expedition. Welche Informationen und Geheimnisse sich hinter den wunderschön ausgebildeten farblichen Variationen und den anderen Charakteristika dieses Kerns verbergen, werden uns erst die späteren Detailuntersuchungen in den Heimatlabors verraten.

Zum Ende des Wochenberichts – am heutigen Sonntag – nicht das „Wort zum Sonntag“ sondern ein sehr interessanter, niedlicher, rührender Beitrag, ein kleiner Schulaufsatz von Emil Schmengler zum selbstgewählten Thema „Polarstern“, der an die Mama hier an Bord geschickt worden ist (und der auch die Aufgaben und Wichtigkeit des Kapitäns an Bord doch richtig erkannt hat) (Abb. 5).

Die Stimmung ist doch bei allen (?) immer noch sehr gut, alle ziehen super mit, und es macht Spaß, mit dieser Truppe zusammenzuarbeiten. Schon jetzt einmal vorab (und am Ende der Expedition sicherlich ausführlicher) ein großer Dank an die gesamte Besatzung und Wissenschaft.

 

In diesem Sinne - macht’s gut!

Herzliche Grüße an Euch daheim, natürlich wie immer im Namen aller,

 

Ruediger Stein

30.09.2018

 

(mit einem Beitrag unserer Meereisgruppe Gerit Birnbaum, Niels Fuchs, Marcel König, Gunnar Spreen und Heike Zimmermann)

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